Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 23. Juni 2008, Heft 13

Die ausgestreckte Hand

von Wolfgang Schwarz

Kürzlich führte die erste Westreise Dimitri Medwedjews als neuer Präsident Rußlands nach Deutschland, und er brachte eine Botschaft mit, die er in einer Rede vor über 700 Repräsentanten aus Politik und Wirtschaft in Berlin formulierte. Leider hat es diese Botschaft nicht in die Schlagzeilen unserer mehrheitlich eher russophoben Medien geschafft. So steht zu befürchten, daß sie in Vergessenheit gerät, bevor sie die Schwelle zur öffentlichen Wahrnehmung überhaupt erreicht hat. Medwedjew bot nicht weniger als einen »verbindlichen Vertrag über europäische Sicherheit« an, und um sich gar nicht erst dem Verdacht auszusetzen, diese Offerte könnte sich gegen die Bündnisbeziehungen zwischen Europa und Nordamerika richten, sprach er zugleich davon, einen »gemeinsamen euroatlantischen Raum von Vancouver bis Wladiwostok zu gestalten«.
Diese Offerte ist um so bemerkenswerter, als Rußland durchaus Veranlassung hätte, dem Westen mit skeptischer Distanz zu begegnen, war dem Land doch vor knapp zwanzig Jahren im internationalen Kontext der deutschen Vereinigung zugesagt worden, daß es auch künftig keine Nato-Streitkräfte in Osteuropa geben werde. Heute aber ist fast das gesamte nichtrussische Osteuropa NATO-Land. Wenn es nach dem Wunsche Washingtons ginge, kämen die Ukraine und Georgien demnächst auch dazu.
Und die Bush-Administration hat überdies nicht nur den sowjetisch-amerikanischen ABM-Vertrag zur Begrenzung der Raketenabwehrsysteme einseitig aufgekündigt, sondern mit ihren militärisch zwar sinnlosen, dafür politisch aber um so provokanteren Plänen zur künftigen Einbeziehung Polens und Tschechiens in eine neue Generation derartiger Systeme deutlich gemacht, daß sie im Falle des Falles auf russische Sicherheitsinteressen keinerlei Rücksicht nimmt.
Auch wenn die Erkenntnis in den deutschen und europäischen politischen Eliten derzeit weitgehend ausgeblendet scheint: Nachhaltige Sicherheit in Europa ist nur mit, nicht gegen Rußland zu haben. Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Beispiele, zu welchen Folgen Konfrontation mit Rußland führen kann – vom Ersten über den Zweiten Weltkrieg bis zu rund fünfzig Jahren Kaltem Krieg. Es war der ehemalige bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der daher jüngst mit Nachdruck für eine strategische Partnerschaft mit Rußland plädierte und die Bundesregierung aufforderte, in dieser Richtung initiativ zu werden. Die Voraussetzungen dafür sind günstig – nicht zuletzt, weil Rußland eine lange Periode der Modernisierung seiner Wirtschaft vor sich hat, wozu der Westen viel beitragen kann. Damit wären im Gegenzug zum Beispiel auch die europäischen Energieimporte aus Rußland für weitere Jahrzehnte zu sichern. Daß die Russen in strategischen Zeiträumen denken, hat gerade erst wieder die Verlängerung einer Liefervereinbarung zwischen Gazprom und der Wintershall AG gezeigt. Die reicht nun bis ins Jahr 2043.
Doch – so lautet eine mindestens zwischen den Zeilen und hinter vorgehaltener Hand – häufig gestellte Frage: Kann man den Russen eigentlich trauen? Warten die nicht nur auf die Gelegenheit, ihre Bedingungen zu diktieren? Ein Blick auf die Geschichte der russischen, früher sowjetischen Energieexporte nach Europa zeigt: Bereits während des Kalten Krieges und dann im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion und der Jahre des Niedergangs in der Jelzin-Ära sowie schließlich unter Medwedjews Vorgänger Wladimir Putin gab es in dieser Hinsicht eine Konstante – das war die peinlich exakte Erfüllung eingegangener Liefervereinbarungen durch die russische Seite.
Versuche, die Energielieferungen politisch zu instrumentalisieren, hat es nicht gegeben. Das provoziert zu der Gegenfrage: Was müssen die Russen eigentlich noch vortanzen, damit ihre Verläßlichkeit nicht immer wieder a priori in Zweifel gezogen wird?
Aber – so lautet ein anderer Einwand gegen ein engeres Verhältnis zu Rußland – da sind ja auch noch die innerrussischen Defizite in Sachen Demokratie; man wolle schließlich nicht (oder nicht schon wieder) ein autokratisches Regime stützen. Polemisch könnte man dagegen einwenden, daß den Verfechtern dieser Auffassung die Demokratiedefizite in Rumänien oder den Baltischen Republiken seinerzeit eher ein Argument dafür waren, diese Staaten in die Europäische Union und die NATO zu integrieren, um nicht zuletzt die Entwicklung hin zu westeuropäischen Demokratiestandards zu unterstützen.
Im Hinblick auf Rußland ist aber viel wichtiger, daß in der Amtszeit Putins aus Rußland wieder ein sehr viel stabilerer Staat geworden ist als unter dem im Westen so hochgeschätzten Boris Jelzin, zu dessen Zeit Chaos und Anarchie nicht mehr aufhaltbar zu sein schienen. Es gehört zu den schwer zu begreifenden Eigentümlichkeiten westlicher Politik, daß diese Leistung Putins und seiner Mannschaft bis heute nicht anerkannt worden ist.
Denn immerhin ist Rußland strategische Nuklearmacht, und im Lande sind zahlreiche Atommeiler am Netz. Das sind nur zwei Gründe, warum dem Westen und allemal Europa ein stabiles Rußland lieber sein muß als das Gegenteil. Im übrigen – in einer strategischen Partnerschaft, auf der Grundlage breiter politischer, wirtschaftlicher und sonstiger Beziehungen, lassen sich natürlich auch Demokratiedefizite thematisieren, und vielleicht wirksamer als mit der anmaßend-besserwisserischen Belehrungsattitüde, mit der das derzeit nicht selten geschieht. Die Dialektik, die mir dabei vorschwebt, hat ihre Politiktauglichkeit jedenfalls bereits bewiesen – sie läßt sich auf die Formel Wandel durch Annäherung bringen und wurde 1963 von Egon Bahr erfunden.
Medwedjews Auftritt in Berlin war einer der ausgestreckten Hand. Dabei ist es nicht so, daß Rußland keine Alternativen hätte. Medwedjews Visi te in Deutschland war zwar seine erste Westreise, aber nicht seine erste Auslandsreise als Präsident. Die hatte ihn zuvor bereits nach Kasachstan und China geführt.
»Wenn es unseren Vorgängern mitten im Kalten Krieg gelungen ist, die KSZE-Schlußakte zu vereinbaren, warum«, so fragte Medwedjew sein Berliner Auditorium, »gehen wir dann nicht den nächsten Schritt?« Ja – warum eigentlich nicht?