Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 23. Juni 2008, Heft 13

Der letzte Dreck

von Ove Lieh

Selbstverständlich darf man Toten Dreck hinterherwerfen, es ist sogar erwünscht. Am offenen Grab nämlich, an dem ein Behältnis und oft auch ein Schäufelchen bereitstehen. Und wenn alle geworfen haben, macht man das Grab zu und wünscht dem Toten ewige Ruhe in Frieden.
Freilich bekommt der private Tote die häufig nicht, entweder, weil es was zu erben gibt, oder, eben weil nicht. Der öffentliche Tote ist noch anderen Gefahren ausgesetzt, weil man nun sein Leben durchwühlt wie des Privaten Schränke, auf der Suche nach etwas Verwertbarem. Und hat er etwas verborgen in seinem Lädchen irgendwo, dann verwertet man es eben. Jeder nach seinen Bedürfnissen übrigens.
Alle, die einmal unter uns gelebt haben, können nun gegen uns verwendet werden. Man erklärt zum Beispiel dem öffentlichen Toten seinen Krieg.
Wer schon immer wußte, wie verlogen der Antifaschismus in der DDR war, der sieht sich bestätigt, übersieht allerdings, daß auch der Faschismus der DDR verlogen war. Offene, terroristische Diktatur irgendwelcher Kreise des Monopolkapitals! Hat sich was! Ein psychopathischer österreichischer Bunkerfreak war schuld, der, wie man nun aus dem Internet erfahren kann, Schwierigkeiten mit Diktaturen hatte. Jedenfalls soll es in Mein Kampf eine entsprechende Textstelle geben.
Und wenn es eine Textstelle gibt, dann kann man nichts machen, dann muß was dran sein. Am Antifaschismus der DDR jedenfalls war nichts dran, er war nichts wert (Rolf Schneider, Schriftsteller). Auch da war man im Westen ehrlicher. Nach kurzer Zeit der Irritationen zeigte man den ehrlichen Faschisten, daß man eigentlich nichts gegen sie hatte und sie besser waren als die verlogenen Antifaschisten. Diese haben nämlich ehrlich zu sein, was ihnen aber nichts nützt, ganz im Gegenteil. Im Unterschied zum Beispiel zu Demokraten, unter denen noch die verlogensten Exemplare gute Noten erhalten.
Und sie sind auf jeden Fall besser als so ein Deserteur, ein »Weggelofener«, wie Strittmatters Leute sagen. Weggelaufen, weil er »das Schlachten nicht mehr mit ansehen konnte …« (Gedächtniszitat aus dem Film – O. L.) Das ist die ganze Erfahrung, auf den Punkt gebracht. Wenn doch nur mehr Deutsche so gehandelt hätten! Aber, der war ja ein Deserteur – und dann noch DDR dazu. Wenn er wenigstens eine Bombe auf Hitler geworfen hätte, dann wäre ihm eventuell sogar manches Davorliegende nachgesehen worden.
Und dann erfrecht sich der Kerl auch noch, nicht richtig desertiert zu sein und auch nicht so, wie er es in einem seiner Bücher darstellt und umgekehrt. So geht das aber nicht! Ihr könnt Euch aus Eurem Leben nicht immer raussuchen, worüber Ihr schreiben wollt. Im Buch hat alles gefälligst genauso zu stehen, wie es im Leben war (siehe Hitler) oder umgekehrt. Lesen werden wir es dann allerdings nicht mehr.
Nun gut, korrigieren wir also die Biographie.
Erste Möglichkeit: Strittmatter bittet 1943 um seine Versetzung aus seiner Einheit weg, mit der Begründung, nicht mit der SS in Verbindung gebracht werden zu wollen. Das für möglich zu halten, bewegt sich ungefähr auf dem Niveau eines Friedbert Pflüger, der Konstantin Wecker einst antwortete, als der fragte, ob es böse sei, wenn irakische Kinder infolge des Irak-Embargos sterben: »… da müssen sie sich an ihren Diktator wenden!« Ich träume seitdem in gewissen Nächten davon, wie sich Friedbert Pflüger an seinen Diktator wendet.
Zweite Möglichkeit: Als Strittmatter von einem sowjetischen Offizier in einem Verhör wegen eines Sabotageaktes, begangen von seinem Kinderfreund Alfredko, gefragt wird, ob er bei der schwarzen SS war, sagt er »Ja«. Nun würde es allerdings eines Wundertäters bedürfen, um den Laden zu retten.
Dritte Möglichkeit: Strittmatter verweigert sich allen Versuchen der DDR, ihn mit seiner Vergangenheit zu erpressen, um ihn zu zwingen, Schriftsteller und Säulenheiliger zu werden.
Besonders im letzten Fall wäre er anschließend tot gewesen. Strittmatter konnte wahrscheinlich nur schreibend leben, und um sich diesen Lebenstraum zu erfüllen, tat er vieles, möglicherweise alles, ging vielleicht sogar über Leichen, zumindest über die in seinem Keller.
Vierte Möglichkeit: Strittmatter war gar nicht er, sondern ein ganz anderer. »Er hat sich im nahenden Zusammenbruch falsche Papiere beschaffen können«, teilt Werner Liersch mit, der uns mit seinen Enthüllungen auf etwas sehr Wichtiges aufmerksam gemacht hat, nämlich auf Werner Liersch. Und jetzt dürfen Sie raten, wer unter dem Namen Erwin Strittmatter berühmt geworden ist. Genau, Werner Liersch. Kaum jedoch war Strittmatter tot, konnte Liersch ihn nicht mehr gebrauchen und lebte fortan wieder unter seinem eigenen Namen, der allerdings seinen Ansprüchen an Popularität nicht mehr gerecht werden konnte, weshalb er nun diesen genialen Schachzug ersann.
Beste Möglichkeit: Lassen Sie sich nicht von der Zeitung sagen, was Sie denken sollen. Lesen Sie Strittmatters Bücher, wenn Sie es aushalten können, daß hinter dem »Säulenheiligen, der Ikone oder der Leitfigur« oder, als was man ihn immer deklariert, der zum Vorschein kommt, der wirklich dahinter steckt: ein Mensch. Ein Mensch übrigens wie Sie und ich.
Und, Gott sei Dank, kein immer noch auf billigen Beifall geiler Apostel der real exekutierenden Moral der Bundesrepublik Deutschland.