Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 12. Mai 2008, Heft 10

Überall?

von Bernhard Romeike

Die Geschichte geht zuweilen seltsame Wege. Diese spiegeln sich dann in Geschichten, die herumerzählt werden. Etwa jene: Die einheimische Bevölkerung lebte in ihrem Glauben, arbeitsam, schlicht und bescheiden – unter den gegebenen Umständen. Dann wurde die alte Herrschaft gestürzt. Die reichen Nachbarn unterstützten die Einheimischen. Sie fügten das Land in das ihre ein, übernahmen die Kosten für diese Eingliederung und entsandten Verwaltungsbeamte, Polizisten, Richter, Steuereintreiber, Techniker, Wissenschaftler; es kamen auch Händler, Garköche, Wahrsager, Huren, Ganoven und allerlei Geschäftemacher.
Nach einer Weile merkten die Einheimischen, daß ihre alten Vorsteher zwar fort-, aber durch neue Vorsteher ersetzt worden waren. Manche der neuen waren zudem dümmer, durchtriebener und niederträchtiger als die alten. Da aber in der offiziellen Propaganda das alte System inzwischen als durchweg schlecht, böse und lebensunfähig galt, während das neue als gut, effizient und vorwärtsweisend beschrieben wurde, schickte es sich nicht, danach zu fragen, ob denn möglicherweise einige der alten Vorsteher hätten bleiben sollen, weil sie vielleicht besser als die neuen wußten, was die Leute hier brauchen und eigentlich wollen.
Das Leben der Menschen im Lande wandelte sich. Doch war die Arbeitslosigkeit höher als im größeren und reicheren Teil des Landes. Die Bezahlung war schlechter, die Ausbildung auch, und die frühere Kultur wurde mehr und mehr verdrängt. Die Leute sollten sich angewöhnen, so zu sprechen wie die Mehrheitsbevölkerung, die gleichen Filme und Fernsehsendungen anzuschauen und die gleichen Themen zu diskutieren. Die Zugezogenen wohnten in den größeren und schöneren Häusern. Ihnen gehörten die besseren Ladengeschäfte, die größeren Autos und die gepflegten Klubs, in denen sie unter sich sein konnten und die Alteingesessenen nur als Kellner oder Reinigungsfrauen zugelassen waren.
Nach etlichen Jahren waren die Kinder der Einheimischen der Meinung, daß es nicht auf Dauer so bleiben könne. Denn es war nicht abzusehen, daß sich für sie etwas besserte. Die Schulen und Ausbildungsstätten blieben schlechter als im größeren Teil des Landes. Wenn sie aus ihrem Leben etwas machen wollten, mußten sie umziehen in den größeren und reicheren Teil des Landes. Dort aber hatten sie Heimweh nach den Bergen und Flüssen der Heimat, auch der dort erzielte Lohn vermochte das nicht auszugleichen.
So kam es eines Tages zu Unruhen. Der Wirrwarr erfaßte große Teile des Gebietes. Es wurden Häuser und Läden der Zugezogenen angezündet, Kaufhäuser geplündert und Autos demoliert. Die Leute waren plötzlich außer Rand und Band. Sie forderte Rechte für die eigene Bevölkerung, die von der Staatlichkeit geachtet werden sollten. Die Behörden berichteten von Toten und Verletzten. Sie hatten kein Verständnis für den Aufruhr, der nur die Geschäfte störte. Jahrzehntelang hatten sie Gelder in die Region gepumpt, Hilfe geleistet, Aufbauhilfe durch die Menschen der Mehrheitsbevölkerung, denen Dank gebühre, und nicht Plünderung, Brandschatzung und Totschlag.
So wurden Polizisten eingesetzt, die Unruhen zu beenden. Straße um Straße, Haus für Haus wurden durchgekämmt. Die alten Leute sollten sagen, wo ihre Söhne und Töchter seien und ob sie an dem Wirrwarr beteiligt gewesen seien. Etliche der vermutenen Unruhestifter wurden auf Lkw verfrachtet und aus der Stadt geschafft. Den Rädelsführern wurde harte Strafe angedroht und den Mitläufern Straflosigkeit versprochen, wenn sie denn Hinweise auf die Rädelsführer geben. Den ausländischen Journalisten war verboten worden, weiter in der Region zu recherchieren, Leute zu interviewen und Bilder zu machen. So galt in der internationalen Öffentlichkeit, daß es schwierig sei, die Dinge zu bewerten, weil weder die Aufrührer noch die Behörden als glaubwürdig galten, zumindest die einen für die eine und die anderen für die andere Presse.
Hier hielten die Erzähler der Geschichte meist inne und begannen zu streiten, an welchem Ort denn die Geschichte spiele. Der eine meinte, er hätte von Ostdeutschland geredet, und die Polizeibehörden hätten mehr als recht gehabt, den Aufruhr der Ossis rasch und entschieden niederzuschlagen. So viel Undank sei ja wohl nicht anders zu beantworten. Ein anderer beharrte darauf, es hätte sich um Tibet gehandelt; die Polizeieinsätze der Chinesen seien verbrecherisch und man müßte die Aufrührer weltweit unterstützen, zumindest eine tibetische Fahne raushängen. Ein dritter insistierte, die Aufrührer hätten recht, die Geschichte aber hätte von den Kosovo-Albanern gehandelt, die gegen die serbischen Militärs unterstützt werden mußten. Der vierte Erzähler wiederum bestand darauf, daß es um die Abchasen ging, die gegen die Einsätze der Georgier Hilfe brauchten. Schließlich meldete sich ein fünfter und sagte, das sei alles falsch. Es ging um die Schwarzen und ihre Aufstände im Süden der USA in den 1960er Jahren. Da sei die Nationalgarde ganz heftig zur Sache gegangen, um die Ordnung wiederherzustellen. Das sei doch aber eine ganz andere Geschichte, entgegnete jemand, und gar nicht vergleichbar. Schließlich sei ein Polizeieinsatz in der Demokratie legitimatorisch betrachtet etwas ganz anderes als ein Polizeieinsatz der Diktatur. Da erinnerte sich der Ossi, daß er das schon mal gehört hatte.