Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 12. Mai 2008, Heft 10

Klarere Worte statt schärferer Töne

von Heerke Hummel

Die Stärke der Spannungen im ökonomischen Fundament der Gesellschaft von heute drückt sich nicht nur in der Höhe von Lohnforderungen und zunehmender Streikbereitschaft aus; nach jahrelanger Enthaltsamkeit der arbeitenden Nichtgroßverdiener – die anderen bedienen sich selbst. Politisch äußern sich diese Spannungen in einem scheinbar marginalen Ereignis. Die Wellen, die das Erscheinen und die ersten Erfolge einer kleinen neuen Partei auf der politischen Bühne erzeugten, deuten an, daß sich die Neoliberalen bedroht fühlen. Die Wortgefechte werden lauter, der Ton rüder.
Aber auch in der LinkeN wird gekämpft, sowohl um die Führung als auch um die Marschrichtung zu einem »Sozialismus im 21. Jahrhundert«. Das Handicap dieser Partei ist, daß ihr das theoretische Konzept abhandengekommen ist. Die Bürgerlichen verbindet der radikale Glaube an die Theorie von den Selbstheilungskräften des Marktes. Viele Sozialisten haben ihren Glauben an Marx weitgehend verloren – zumindest ist er sehr erschüttert –; aber grundlegend neue Theorieansätze haben sie bisher nicht ins Spiel gebracht. Und so wird mangels theoretisch fundierten Überzeugungsvermögens in der Debatte mitunter dem Kontrahenten einfach verordnet, »die Klappe zu halten«. Das sind Anzeichen zunehmender Nervosität als Folge des Unvermögens, genau zu erklären, was man eigentlich will. Wogegen man kämpft, ist klar, aber das Wofür bleibt verschwommen, bestenfalls Ansichtssache. Der Linken hat das schon den Vorwurf eingebracht, »die zweite (neo-)sozialdemokratische Partei einer kapitalistischen deutschen Gesellschaft [zu sein], die mittlerweile so etwas braucht« (Georg Fülberth).
Der Ton macht die Musik. Gemeint ist damit aber nicht die Lautstärke, sondern Tonlage und Klarheit. Letztere geht verloren, wenn mit allgemeinen Begriffen argumentiert wird, die sich schon vor Jahrhunderten herausbildeten und deren Inhalt nicht mehr mit den heutigen konkreten Gegebenheiten übereinstimmt.
Wird zum Beispiel die heutige Gesellschaft als »kapitalistisch« bezeichnet, wird sie mit dem gleichen Adjektiv charakterisiert wie die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. (Mit Marx hat das übrigens nicht viel zu tun, denn der kannte nur eine kapitalistische Produktionsweise, die eine Gesellschaft prägt, aber keine »kapitalistische Gesellschaft«, geschweige denn einen »Kapitalismus«. Das sind alles »Schöpfungen« seiner Epigonen – d. Red.) Auch wenn heute noch wie damals die Selbstvermehrung des Geldes das subjektive Ziel der handelnden Akteure ist, hat sich doch die Art und Weise dieses Prozesses grundlegend verändert. Sie durch die gleiche Begrifflichkeit gleichzusetzen, ist so absurd wie zu behaupten, daß das kapitalistische Unternehmertum des 19. Jahrhunderts das gleiche gemacht habe wie die von Jesus aus dem Tempel gejagten Geldwechsler der Antike, nämlich Geld zu mehr Geld.
Konservative Kommunisten meinen, an dem festzuhalten, was Marx vor anderthalb Jahrhunderten analysierte, wenn sie propagieren, daß die gleichen ökonomischen Gesetze immer noch wirken. In den Sozialdemokraten sahen sie – und tun das wohl auch noch heute – Revisionisten, die Marx revidierten.
Nicht besser erscheinen aus diesem Blickwinkel die heutigen Sozialisten, die nicht mehr auf die Revolution und die Diktatur des Proletariats zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel setzen wollen. Mit einem Konjunkturprogramm unter dem vielversprechenden Titel Zukunftsinvestitionsprogramm soll nach dem Willen von Ralf Krämer, Michael Schlecht und Axel Trost die LINKE nun nach alten keynesianischen Mustern die anderen Parteien quasi im Rückwärtsgang überholen. Und ihre Widersacher in der eigenen Partei haben dem nichts als den Hinweis auf die Unbezahlbarkeit eines solchen Programms entgegenzusetzen. Helmut Holter, Mecklenburg-Vorpommern, befürchtet gar, an der LINKEN könne »das Etikett der Umverteilungspartei« kleben bleiben.
Sozialdemokraten und Sozialisten haben zwar akzeptiert, daß sich die Welt im vorigen Jahrhundert gründlich veränderte, marxsches Gedankengut also nicht mehr eins zu eins angewendet werden kann. Doch eine neue theoretische Grundlage haben sie nicht. Daher rührt ihr pragmatisches Herumwursteln, der wortgewalttätige Streit in den Richtungskämpfen für und wider die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung durch Regierungsbeteiligung, über Kriterien, Bedingungen und Grenzen für solche Entscheidungen und so weiter. Ohne neue Analysen mangelt es ihren Argumentationen an Logik; Lautstärke und verbale Verunglimpfungen mutieren zu schlagenden Argumenten.
Meine Hypothese: Die von Marx erwartete Gesellschaft existiert in ihrer ökonomischen Basis dank der im 20. Jahrhundert vor sich gegangenen Veränderungen bereits. Aber es ist nicht das proletarische Himmelreich einer allgemeinen Harmonie, sondern eine mit den »Muttermalen der alten Gesellschaft« – noch viel stärker als von Marx angenommen – behaftete Leistungsgemeinschaft. Über ihre ökonomischen Details konnte und wollte sich der große Vordenker nicht auslassen. Die Linke sollte sich daher klar und ehrlich von der marxschen Kapitalismustheorie verabschieden – nicht weil diese falsch ist beziehungsweise war (sie war brillant!), sondern weil sie infolge der veränderten gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht mehr zutreffend und nicht mehr geeignet ist, die heutigen Verhältnisse in ihrem Wesen richtig zu erfassen und zu beherrschen!
Aber es darf nicht bei einem solchen Abschied bleiben! Dem ökonomischen Liberalismus ist eine neue, besser: weiterentwickelte, Theorie der Linken von der heutigen Produktionsweise entgegenzusetzen, doch bitte kein »Modell« eines Sozialismus im 21. Jahrhundert! Mit einer neuen Theorie der heutigen Ökonomik wird man die Muttermale der alten Gesellschaft durch Beherrschung ihres Finanzsystems wirksam bekämpfen und den »Kasinokapitalismus« zu einer wirklichen Leistungsgesellschaft zum Nutzen aller gestalten können.

Siehe auch: Abschied vom Marxismus, unter www.heerke-hummel.de