Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 26. Mai 2008, Heft 11

Die Mutter der Kinder des Holocausts

von Holger Politt, Warschau

Auf polnischer Erde ermordeten Hitlers Schergen eine halbe Million jüdischer Kinder. Die Zahl der geretteten Kinder beläuft sich auf wenige Tausend. Irena Sendler rettete aus dem Warschauer Ghetto zweieinhalbtausend Kinder. Sie setzte zweieinhalbtausendmal ihr junges Leben ein, denn auf Hilfeleistung für jüdische Menschen stand im besetzten Polen unmißverständlich die Todesstrafe. Für die Rettung eines einzigen Kindes bedurfte es etwa zehn Personen, die eingeweiht waren oder mithalfen. So wie der Warschauer Straßenbahnfahrer, der, als er die Schreie eines Kindes vernahm, das auf Jiddisch nach seiner Mama rief, kurzerhand die Passagiere mit der Begründung ausstiegen ließ, die Straßenbahn sei defekt und fahre ins nächste Depot. »Wo soll ich sie hinfahren?«, wurde Irena Sendler anschließend gefragt.
Irena Sendler besaß im Winter 1942/43 einen Passagierschein für das Ghetto, in dem Typhus ausgebrochen war. Vor dieser Seuche hatten die Deutschen panische Angst und ließen deshalb in begrenztem Umfange Hilfe von außen zu. Irena Sendler, zu dieser Zeit Mitarbeiterin im Sozialamt, kam durch diese Umstände in unmittelbaren Kontakt mit den Müttern der Ghettokinder. Sie zu überreden, der unbekannten Frau von der »anderen Seite« die eigenen Kinder zu übergeben, gelang eben diese zweieinhalbtausend Mal. Den Müttern war in den meisten Fällen bewußt, daß sie ihre Kinder nie wieder sehen würden, auch wenn sie anderes hofften. Treblinka arbeitete zu dieser Zeit bereits seit Monaten auf Hochtouren.
Nach der Rettung aus dem Ghetto mußten Papiere, mußte sicheres Quartier in polnischen Familien oder in Klostern besorgt werden. Es gelang Irena Sendler, die Dokumentation, mit deren Hilfe die untergetauchten Kinder nach dem Krieg identifiziert werden konnten, rechtzeitig vor der eigenen Verhaftung durch die Gestapo an sicherem Platze zu vergraben. Im Oktober 1943 wurde sie festgenommen und zum Tode verurteilt. Dem polnischen Untergrund gelang es jedoch, sie im Februar 1944 kurz vor der geplanten Hinrichtung aus den Fängen der Gestapo zu befreien.
Irena Sendler war Aktivistin des Rates zur Unterstützung für die Juden Zegota, der im Auftrag der polnischen Exilregierung geschaffen wurde und deren Mitglieder insgesamt etwa 75000 Menschen das Leben retteten. 1965 wurde Irena Sendler vom Yad Vashem der Titel Gerechte unter den Völkern verliehen. Als sich 1993 die lebenden polnischen Titelträger trafen, fragte sie, ob die Zahl von 4000 polnischen »Gerechten«, gemessen an den damals lebenden 25 Millionen Polen, viel oder wenig sei. Nachdem die Diskussion um Jedwabne vor einigen Jahren das Land erschütterte, erklärte sie unumwunden, dort sollten wir Polen – unsere Brüder und Schwestern um Verzeihung bittend – die blutbefleckte Erde küssen.
Irena Sendler trat bereits vor dem Krieg der PPS, der Polnischen Sozialistischen Partei bei, die 1948 in Polen in die Einheitspartei PVAP aufging. Nach den Märzereignissen des Jahres 1968 gab sie ihr Parteibuch zurück. 2006 schlugen die Staatspräsidenten Polens und Israel vor, Irena Sendler mit dem Friedensnobelpreis auszuzeichnen. Sie war Trägerin der höchsten polnischen Staatsauszeichnungen.
Am 12. Mai 2008 verstarb Irena Sendler in Warschau im Alter von 98 Jahren. Die Kinder des Warschauer Ghettos, die ihr Überleben dieser großartigen Polin zu verdanken haben, bezeichnen sie als Mutter der Kinder des Holocausts.