von Frank Schubert
Die deutsche Medienlandschaft ist vollgestopft mit Ereignissen; und eines folgt dem anderen immer schneller. Kaum ist der Umfaller des Kurt Beck und der Große Tabubruch der Andrea Ypsilanti durch alle Blätter, über alle Lautsprecher und Bildschirme gesaust, braust eine neue Welle auf uns zu: Die Welle. Diesmal ein Spielfilm, eine Adaptation eines Buches von Morten Rhue (1981, deutsch 1984), das seinerseits auf einem Tatsachenbericht des Geschichtslehrers Ben Ross von der Cubberley High School in Palo Alto beruht. Schüler hatten ihn gefragt, wie es denn in Nazi-Deutschland zu der Folgewilligkeit der Bürger hatte kommen können, das sei doch völlig unerklärlich oder eben irrational. Der Lehrer startete ein soziologisches Feld-Experiment. Aus der Klasse wurde eine folgsame Gruppe, mit Gruß, einheitlicher Kleidung, strengen Regeln und so weiter. Schließlich mußte das Experiment abgebrochen werden. Mit einem bloßen Appell.
Dieser hier skizzierte dramatische politische Stoff ist in der Bundesrepublik seit Jahrzehnten omnipräsent. Das Buch liest die Schuljugend freiwillig und begeistert (!). Auf vielen Theaterbühnen ist das Stück anhaltend präsent, es gibt Hörspielfassungen (auch als Hörbuch) und vor Jahren schon einen deutschen Filmversuch Das Experiment (unter anderen mit Moritz Bleibtreu). Außerdem hat das Max-Planck-Institut für Psychologie in München versucht, das Kommandierenkönnen durch akzeptierte Autoritäten experimentell durchzuspielen; die Video-Dokumentation trägt den Titel Unternehmen Abraham. Das Modell inszenatorisch ausgelöster zwischenmenschlicher Konflikte zwecks »beobachtenden Studiums« steckt übrigens auch in dem Projekt Blue Eyed, mit dem die US-amerikanische Psychologin Jane Elliot durch die Welt reist und Schulklassen sowie Managerseminare belehrt.
Und nun kommt also 2008 ein neuer deutscher Film hinzu: Die Welle. Und unsereiner gerät ob der vorwiegend positiven Beurteilungen des Films ins Schwitzen, denn ich bin der Ansicht, wir werden wieder einmal veräppelt und – ob vorsätzlich oder unwissend, sei dahingestellt – falsch bedient. Denn bei nur einigermaßen zaghaftem Gebrauch der Vernunft und Urteilskraft kann ein solch krampfhaft losgetretenes Experiment nicht einmal Fahrt aufnehmen, geschweige denn zur ungebremsten, alles unter sich begrabenden Lawine werden. Bei dem radikalen Wechsel des Führungsstils seitens des Lehrers Ben Ross schauen doch erst einmal ein paar helle Köpfe verduzt auf und fragen sich: »Spinnt der?« Diese Degradierung des Schülers zur dressierten Spiel-Figur in der Mini-Sozietät »Schulklasse« wird einfach nicht klappen. Denn den partizipativen Charakter der Beziehung Lehrer – Schüler knipst man nicht einfach so aus, wie man einen Schalter umlegt.
Man vermeldete sogar (stolz?), daß die übliche Story etwas verschärft wurde, sozusagen ein kleiner Counterstrike-Effekt, blutig endet – wieder ein Beitrag zur »Volksaufklärung«. Eine Übertreibung? Welt kompakt vom 11. März veröffentlichte ein Doppelinterview mit Dennis Gansel (Regisseur) und Jürgen Vogel (Hauptdarsteller). Hans-Georg Rodeck, Filmspezialist der Welt fragte, warum denn ausgerechnet heute das vierzig Jahre alte US-Stück verfilmt und warum die Handlung nach Deutschland verpflanzt wurde.
Die Antwort von Regisseur Dennis Gansel war einfach klasse und sachstandstypisch: »Kann so etwas hier und heute immer noch passieren? Wir sind doch extremst aufgeklärt. Aber je länger man sich mit Gruppendynamik beschäftigt, desto mehr kommt man ins Grübeln.«
Von Dennis Gansel stammt auch der Set-Bericht, in dem es heißt: »Alle Schauspieler, die unter zwanzig sind, haben mir gesagt ›Das kann wieder passieren, weil die Gruppendynamik so stark ist.‹ Es komme alles auf den Lehrer an. Bei einem Idioten würde das nicht funktionieren, aber bei einem Charismatiker …«
Gansel glaubt sicher, was er sagt, dennoch trägt er zur fortdauernden Existenz dreier Falschaussagen bei, die da lauten: Gruppendynamik schlägt uns biologisch zwingend, instinktiv unreflektiert und unentrinnbar in den Bann; immer verursacht so ein einzelner die Katastrophe, also wehe, wenn ein Charismatiker auftaucht; wir sind extremst aufgeklärt.
Im Welt-kompakt-Interview begründete Jürgen Vogel, warum der Film gerade jetzt sein müsse: Der Nationalsozialismus »war besonders perfide, aber könne jederzeit auf dieser Welt stattfinden. In Ex-Jugoslawien, 400 Kilometer entfernt von der deutschen Grenze, in Ruanda, dort wurden eine Million Menschen abgeschlachtet.«
Behauptet werden also, erstens, die Wiederholbarkeit des NS-Regimes (in Deutschland oder der ganzen Welt) und, zweitens, die beliebige Wiederholbarkeit des Experimentes von Ben Ross aus Palo Alto; sie sei in Folge des biologischen Selbstläufers »Gruppendruck« gegeben.
Behauptet wird, daß jüngste Beispiele für diesen Wirkungsmechanismus die jugoslawischen Kriege und Ruanda seien, ohne auf die gesellschaftlichen Ursachen, die sorgsame Anbahnung der Kriege durch Diplomaten und Politiker sowie internationale Interessengruppen und die gezielte Konfliktverstärkung durch erfolgreiche Reanimation alter Ressentiments und »unbeglichener Rechnungen« (aus deren jüngster und älterer Geschichte) einzugehen. Auch der Buchautor Morton Rhue kommt in den medialen Aussendungen zu Wort; er lobt den Film »als einen Film, der mit Mitteln der Unterhaltung Aufklärung betreibt«. »So klischeehaft die Typen, so stimmig entwickelt sich dennoch die Gruppendynamik. Die Ausbreitung der Welle, die Mitläufer anzieht und Skeptiker zu Feinden erklärt, ist punktgenau inszeniert.«
Aufklärung? Unentrinnbarkeit, die Kriege erklärt? Also finde dich damit ab, Erdenwurm?
Wenn ein derartiges Lehr-Stück so viele schillernde, politdramaturgisch exzellente Attribute aufweist (Dynamik, Konflikt, Jugendlichkeit, Charisma, Regelhaftigkeit und Berechenbarkeit, psychologische Aufwertung des Ego), dann darf BILD natürlich nicht fehlen; das liest s ich so: »Film der Woche, Kino-Glücksfall, intelligent, einfach unglaublich die Story, die spannende Chronik eines Schulexperimentes. Wie aus Schülern plötzlich Extremisten werden.«
Schlagwörter: Die Welle, Frank Schubert, Morten Rhue