von Hermann-Peter Eberlein
Am 16. März 1938, abends gegen zehn Uhr, erscheinen vor dem Haus Gentzgasse 7 in Wien zwei SA-Männer und begehren Einlaß. Während sie noch mit der Haushälterin verhandeln, springt der Wohnungsinhaber aus einem Fenster des dritten Stocks in den Tod – nicht ohne vorher den Passanten warnende Worte zuzurufen. Der rücksichtsvolle Selbstmörder ist Egon Friedell, Jude, Schriftsteller, Kabarettist, Kulturhistoriker: einer der ganz Großen des Wiener Geisteslebens der Epoche von Hofmannsthal und Zweig, Freud und Klimt, Mahler und Schönberg. Er ist eines der ersten Opfer des Anschlusses Österreichs an Nazideutschland, der wenige Tage zuvor, am 13. März, vollzogen worden war.
Als Egon Friedmann ist der Sohn eines Seidenfabrikanten am 21. Januar 1878 in Wien geboren worden. Als er neun Jahre alt ist, lassen die Eltern sich scheiden. Egon und seine Geschwister bleiben beim Vater bis zu seinem Tode 1891; danach kommt der Junge zu einer Tante nach Frankfurt. Seine Schulkarriere ist chaotisch: Als unerträglicher Störenfried wird er immer wieder relegiert, dauernd wechselt er die Gymnasien, zwischendurch hört er in Berlin schon einmal Vorlesungen an der Universität, läßt sich evangelisch taufen. In Heidelberg besteht er schließlich das Abitur. Hier beginnt er dann auch sein Philosophiestudium, vornehmlich bei Kuno Fischer, einem heute vergessenen Rechtshegelianer. Ein Jahr später, wohlausgestattet mit dem väterlichen Erbe, zieht er zurück nach Wien, wo er 1904 mit einer Arbeit über Novalis als Philosoph promoviert.
Nichts zieht ihn in die akademische Laufbahn. Friedmann wird Teil der Wiener literarischen Bohème, jener Kaffeehaus- und Theaterszene, die für alle Zeiten den unverwechselbaren Glanz der letzten Jahre Wiens als Hauptstadt der Donaumonarchie ausmacht. Er publiziert in Kraus’ Fackel, reüssiert als Schriftsteller mit dem Einakter Goethe, leitet zwei Jahre lang ein Kabarett. Über ein Vierteljahrhundert lang, von 1906 bis 1932, ist er Mitarbeiter der Weltbühne. Mit Alfred Polgar, der seine Gelassenheit, seinen altmodischen Lebensstil, seine Ironie und seine Lebensfreude schätzt, verfaßt er gemeinsam Theaterstücke; Thomas Mann begeistert sich für seinen Stil. Nach dem Krieg arbeitet er als Journalist und Theaterkritiker für das Neue Wiener Journal, daneben als Schauspieler, Regisseur und Dramaturg am Burgtheater und immer wieder auch am Deutschen Theater in Berlin. Seinen Familiennamen hat er schon 1916 in Friedell ändern lassen.
Doch je länger je weniger hält er dieses Leben aus. Seit jungen Jahren ißt und vor allem trinkt er zuviel. Entziehungskuren und Sanatoriumsaufenthalte sind die Folge. Aus gesundheitlichen Gründen kann Friedell ab 1927 keine festen Stellen mehr annehmen; er arbeitet fortan nur noch als freier Schriftsteller und Übersetzer. In dieser Zeit wird aus dem umtriebigen Tausendsassa das, was ihm auf alle Zeiten seinen unverwechselbaren Rang in der Geschichte sichern wird: einer der größten Kulturgeschichtsschreiber überhaupt.
Binnen fünf Jahren verfaßt er seine dreibändige Kulturgeschichte der Neuzeit, die 1932 erscheint und ihn international berühmt macht. Die Einzigartigkeit dieses Werkes liegt in der Verbindung von essayistischem, ja anekdotischem Stil und stupender Gelehrsamkeit; so entsteht eine Gesamtschau, in der Vergangenheit und Selbstanalyse ineinanderfließen: »Alles, was wir von der Vergangenheit aussagen, sagen wir von uns selbst aus … Indem wir uns in die Vergangenheit versenken, entdecken wir neue Möglichkeiten unseres Ichs«.
Dieses Bild ist nur möglich auf dem Hintergrund eines idealistischen Weltverständnisses, das nach Hiroshima und dem Holocaust kaum noch jemand zu teilen vermag. Heute wird Kulturgeschichte anders geschrieben: als Sozial- oder Mentalitätsgeschichte, als »Geschichte der Technik« oder »des privaten Lebens«. Nie mehr aber ist es nur einer, der alles zusammenbringt, immer sind es Herausgeber- oder Autorenkollektive: Der Stoff ist einfach zu gewaltig. Und wenn auch Friedells Sicht gelegentlich einseitig oder durch die Forschung überholt sein mag – er bleibt ein Klassiker, dem allein Gregorovius und Jacob Burckhardt das Wasser reichen können.
Sein Werk freilich blieb Fragment. Die Kulturgeschichte Ägyptens und des Alten Orients kann 1936 schon nicht mehr in Deutschland erscheinen. Das Manuskript der Kulturgeschichte Griechenlands, erst kurz vor dem Tode vollendet, wird von der Gestapo beschlagnahmt und nur durch den Mut der Erben gerettet.. Die Blätter über die Kultur des Römischen Reiches bleiben leer.
Hilde Spiel, die Chronistin von Wiens Glanz und Untergang, sagt von Friedell, in ihm sei »noch einmal die berauschende Fiktion vom universalen Menschen«, das Renaissance-Ideal des »uomo universale« auferstanden. Damit hat sie ihm die Ehre erwiesen, die ihm gebührt.
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