Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 31. März 2008, Heft 7

Der Sargnagel

von Gerd Kaiser

Am Dienstag, dem 5., und Mittwoch, dem 6. März 1968, unterrichtete ein Flugblatt, Verfasser waren Sprecher der Studentenschaft in Warschau, über Vorhaben in den nächsten Tagen. Den Text geschrieben und vervielfältigt hatten die Studenten u. a. Julia Jurys´ und Eugeniusz Smolar.

Das Flugblatt Kundgebung zur Verteidigung demokratischer Freiheiten. Freitag 12.00 Uhr. Hof der Warschauer Universität. Schluß mit den Repressionen! Die Unabhängigkeit der Universität ist bedroht! wurde in Studentenwohnheimen, Seminarräumen und Auditorien verteilt.

Vorausgegangen war im Januar die von Unmutsbekundungen begleitete Absetzung des Dramas Dziady (deutsch Die Totenfeier) des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz (1798 bis 1855) im Nationaltheater Warschau durch die Behörden. Mickiewicz hatte in dem Stück die Herrschaft Rußlands über Polen gegeißelt – auch 1968 noch ein brisantes Thema. Eine von 3145 Personen unterzeichnete Protestresolution wurde am 16. Februar 1968 dem Sejm, dem Parlament, überreicht.

Die Entschließung für die für den 8. März angekündigte Kundgebung auf dem Universitätsgelände schrieb Karol Modzelewski, höchstwahrscheinlich in Abstimmung mit Jacek Kuron und eventuell auch mit weiteren Studenten. Um 11.55 verbot das Rektorat die Kundgebung. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich etwa 500 Studenten eingefunden. Die Studentin Barbara Torunczyk rief laut vernehmbar: »Hin zum Bum-Bum!« Das ist die Uhr an der Universitätsbibliothek. Als sich annähernd tausend Studierende zusammengefunden hatten, fuhren Einheiten der ORMO, eine Art Kampfgruppe für innenpolitische Auseinandersetzungen, die zwischen 1946 und 1989 existierte, auf das Universitätsgelände und umzingelten die Studenten, die sich auf den Grünanlagen vor der Bibliothek niedergelassen hatten.

Die Studentin Irena Lasota stieg auf eine Bank und verlas, gestützt von ihren Studienkollegen Miroslaw Sawicki und Wiktor Górecki folgende Entschließung:

»Wir, die Studenten Warschauer Hochschulen, sind am 8. März 1968 zu einer Kundgebung zusammengekommen und erklären:

Wir erlauben niemandem, die Verfassung der Volksrepublik Polen mit Füßen zu treten.

Die Verfolgung von Studenten, die gegen die schandbare Absetzung, das Verbot der Dziady im Nationaltheater protestiert haben, ist eine offensichtliche Vergewaltigung des Artikels 71 der Verfassung.

Wir lassen uns nicht das Recht auf die Verteidigung der Traditionen von Demokratie und Unabhängigkeit des Volkes Polens nehmen. Wir verstummen nicht angesichts der Verfolgungen. Wir verlangen, die Relegierung unserer Kommilitonen Adam Michnik und Henryk Szlajfer zurückzunehmen. Wir verlangen die Einstellung der disziplinarischen Untersuchungen gegen (es folgen neun Namen von Studenten), denen die Teilnahme an der Studentendemonstration nach der letzten Vorstellung der Dziady vorgeworfen wird, einzustellen. Wir verlangen, daß Józef Dajczgewand auch künftig das ihm zustehende Stipendium erhält.

Wir erwarten, daß, von heute an gerechnet, im Verlauf von zwei Wochen der Minister für Bildung und Hochschulwesen, Henryk Jablon´ski, sowie der Rektor der Warschauer Universität der Studentenschaft direkt auf die angeführten Forderungen antworten.«

Karol Modzelewski kommentierte – einem Abhörprotokoll des Staatssicherheitsdienstes zufolge – den Aufmarsch und das Eindringen der ORMO auf das Universitätsgelände mit den Worten: »Na, da haben sich die Machthaber einen Nagel zu ihrem Sarg geleistet.«

Wl⁄adysl⁄aw Gomul⁄ka, erster Mann im Machtapparat, wurde keine zwei Jahre später durch einen Arbeiteraufstand in den Hafenstädten an der Ostseeküste aus dem Amt gejagt.

Aufruf und Beschluß wurden in der katholischen Wochenzeitung »Tygodnik Powszechny«, Nr. 10 vom 9. März 2008 gedruckt.