Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 17. März 2008, Heft 6

Angst

von Gerd Kaiser

Strach – so der Titel des jüngst in Polnisch erschienenen Buches von Jan T. Gross – bedeutet »Angst«. Das Werk des Historikers bewirkte diesmal in Polen eine noch erbittertere Debatte um das Miteinander und Gegeneinander von Polen und Juden in Vergangenheit und Gegenwart als eine frühere Veröffentlichung des Wissenschaftlers aus Princeton. Bereits sein Buch Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne hatte zu einer heftigen Auseinandersetzung geführt.

Nunmehr also Strach. 2006 erschien das Buch in den USA, Ende 2007 in Polen. Sein erster Untertitel: Der Antisemitismus in Polen kurz nach dem Krieg, sein zweiter Untertitel: Die Geschichte eines moralischen Abgrunds. Das machte Angst. Gross konzentriert sich erneut auf den in Mord und Totschlag ausartenden Antisemitismus, diesmal jedoch nicht auf einen Pogrom an einem Tag in einem abgelegenen Dorf, sondern auf serienweise Pogrome, vielerorts, in den Jahren 1944 bis 1946. Sie richteten sich gegen jene Handvoll Juden, die im Untergrund in Polen, einige auch Konzentrationslager und Zwangsarbeit überlebt oder Zuflucht in der Sowjetunion gefunden hatten.

Bei den Pogromen und Überfällen in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs als auch in den ersten beiden Nachkriegsjahren wurden annähernd dreitausend Juden ermordet. Wo immer überlebende Juden ein Dach über dem Kopf fanden, sei es in kleinen Dörfern oder in Großstädten wie Kielce und Kraków, rotteten sich Antisemiten zusammen, um zu vollenden, was den deutschen Einsatzkommandos und in den Vernichtungslagern nicht gelungen war. Ihr Vorgehen wurde von einer schweigenden und gleichgültigen Mehrheit, von nicht wenigen lokalen und regionalen Behörden toleriert oder akzeptiert. Es wurde nicht als Verbrechen empfunden, geschweige denn geahndet, sondern als »Scherbengericht« über »Fremdstämmige« aufgenommen.

Nicht wenige Polen interpretieren noch heute eine derartige Brandmarkung antisemitischen Verhaltens schlechthin als Angriff auf ihr »Polentum«. So hält es die Hälfte aller Polen – einer Internet-Umfrage der Zeitschrift Newsweek Polska von Anfang Januar 2008 zufolge – generell für überflüssig, sich der Geschichte der polnisch-jüdischen Beziehungen zuzuwenden, »weil es zu nichts Gutem führt«.

Bereits zur ersten öffentlichen Präsentation des Buches mit Gross am 22. Januar in der Warschauer Hochschule für Wirtschaft und Verwaltung marschierten kahl- wie hohlköpfige Radaubrüder auf. Unter ihnen Anhänger der Nationalen Wiedergeburt Polens. Sie verlangten: »Stop für Polenfresser«. Und Leszek Bubel, vor noch nicht allzulanger Zeit Kandidat der extremen Rechten für das Präsidentenamt, verteilte die von ihm herausgegebene Zeitung Tylko Polska (»Nur Polen allein«), auf deren Titelseite Gross als »Schwein« diffamiert wurde.

Aber keineswegs die extreme Rechte allein, gern als »marginale Randgruppe« verharmlost, macht mobil. Es formierte sich eine Front, die zwar getrennt marschiert, aber gemeinsam zuschlägt. Sie reicht von den Glatzen der Nationalen Wiedergeburt bis zu etablierten Politikern und Institutionen des Staates, sie umfaßt die Hörerschaft von Radio Maryja ebenso wie Staatsanwälte und Journalisten sowie die Eingreiftruppe des Instituts für Nationales Gedenken.

Die Staatsanwaltschaft Kraków eröffnete am Tag der Buchpräsentation ein Ermittlungsverfahren gegen Jan T. Gross. Der hatte im Schandmärz 1968, als Zwanzigjähriger, nach Verfolgung und Haft, Polen verlassen. In Kielce stellte Gross sein Buch unweit des Hauses Planty-Straße 7 vor, dem Hauptort des Pogroms am 4. Juli 1946, der 46 Opfer, darunter Frauen und Kinder, gefordert hatte. Demonstrativ war von der katholischen Kirche nicht ein einziger Vertreter erschienen. In Kielce erklärte Gross, daß eine Mehrheit von Polen nicht stumme Zeugen des Völkermordes waren, sondern nach dem Krieg eine »ethnische Säuberung« exekutierten. Statt sich der öffentlichen Debatte um historische Geschehnisse zu stellen, verleumdete in Kraków der vormalige Kammerdiener des Papstes, Kardinal Dziwisz, der nunmehr einer Diözese vorsteht, das Buch als »schädlich«. Der (katholische) Verlag Znak, der die polnische Ausgabe verlegt, handelte sich von Dziwisz eine Rüge ein.

Doch nicht nur Gross’ Forschungsergebnisse werden von politischen Eliten und klerikalen Nobilitäten negiert. Angriffe aus der »Mitte der Gesellschaft« erfahren auch Untersuchungen von Wissenschaftlern wie die von Boz˙ena Szaynok – ihr ist die erste fundamentale Darstellung des Pogroms von Kielce zu verdanken –, die der Historikerin Barbara Skarga von der Warschauer Universität sowie die von Feliks Tych, vormaliger Direktor des Jüdischen Historischen Instituts Warschau.

Es geht eine Angst vor wissenschaftlichen Forschungsergebnissen um, die sich aus vielerlei Quellen speist. Darunter primitive Ängste, die seit dem Jedwabne-Buch aus der Befürchtung resultieren, unrechtmäßig erworbene Güter abgeben zu müssen. Da sich viele Polen nicht nur in einem Dorf wie Jedwabne massenhaft an den Hinterlassenschaften ihrer jüdischen Mitbürger sowohl in den Jahren der deutschen Okkupation als auch in den Jahrzehnten danach und bis in die Gegenwart hinein bereichert haben (Häuser, Grundstücke, Wohnungseinrichtungen, Sakralbauten, Werkstätten, Kunstschätze …), ist die Angst, zurückgeben zu müssen, unter vielen Dächern zu Hause.

Es gibt noch eine andere Angst: jene, daß durch eine öffentliche Debatte Grundpfeiler des polnischen Nationalbewußtseins erschüttert werden könnten. Nicht wenige Polen sehen in ihrem Volk den Christus der Völker, verstehen sich als das »Christusvolk« schlechthin, dessen Leiden unermeßlich und unvergleichlich seien. Dieses Gefühl ist weit verbreitet – nicht zuletzt infolge erlittenen Unrechts in vielhundertjähriger polnischer Geschichte, und weil es dieses gefühlige Geschichtsverständnis, nebenbei gesagt, auch ermöglicht, jene Leiden totzuschweigen, die von Polen anderen Völkern zugefügt worden sind, um nur das ukrainische und das belorussische zu nennen.

Die Angst nährt sich in diesen Zusammenhängen und in besonders starkem Maße aus dem Verhalten der katholischen Kirche. Bereits 1946 hatte Kardinal Hlond, der die Kriegsjahre im Vatikan verbracht hatte, in einem für Papst Pius XII. bestimmten Schriftsatz nicht die Pogromopfer beklagt, sondern unterstellt, die Opfer seien die »böse Frucht« »einer gemeinsamen Provokation« von Juden (!), Sowjets und polnischer Staatssicherheit. Auch der seinerzeitige Bischof der Diözese Kielce, Kaczmarek, verdrehte die Wahrheit in einem Memorandum für die us-amerikanische Botschaft: Nicht die Täter, sondern die Opfer seien schuld am Pogrom. Bis auf eine Ausnahme hat kein katholischer Bischof, auch nicht Kardinal Stefan Wyszynski, jemals ein Wort gegen den antisemitischen Banditismus jener Nachkriegszeit – so ein Urteil des letzten überlebenden Befehlshabers im Ghetto-Aufstand und späteren Herzchirurgen Marek Edelmann – geäußert.