Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 18. Februar 2008, Heft 4

Wahldemokratie?

von Heerke Hummel

Die Wahlergebnisse in Hessen haben, weil sie eine Regierungsbildung schwierig machen, wieder einmal Wahlrechtsreformer auf den Plan gerufen. Das Land (und auch die Republik) seien mit der Etablierung einer fünften Partei unregierbar geworden, heißt es. Die Sache hat etwas mit dem Verständnis von Demokratie zu tun, mit der Frage, was des Volkes politischer Wille ist, wie er sich artikuliert und wie er durchgesetzt wird.

Dem Volk, dem Souverän, stehen heute in Deutschland und Europa zwei Wege offen, seinen Willen kundzutun und durchzusetzen: der parlamentarische und der außerparlamentarische. Je weniger ersterer sich als geeignet erweist, um so mehr gewinnt letzterer an Bedeutung und Gewicht, endet möglicherweise in Rebellion und Revolte des Volkes. Ob er sich als geeignet erweist, hängt zum einen von den parlamentarischen Regeln einschließlich Wahlmodus ab und zum anderen vom Verhalten der agierenden Politiker.

Bisher herrschte in der öffentlichen Meinung die Auffassung vor, unser heutiges Wahlsystem als Kombination von Mehrheits- und Verhältniswahl ermögliche die Ermittlung und Durchsetzung des Volkswillens. Wenn nun, in einem sich stabilisierenden System von fünf im Parlament vertretenen Parteien ein Land beziehungsweise die Republik »unregierbar« werden soll, kann das doch – da der Wahlmodus gleich geblieben ist – nur am Verhalten der Parlamentarier liegen. Wie bockige Kleinkinder stellen sich da vier der Parteien hin und schreien: Nein, mit der Fünften spielen wir nicht, ja, reden wir nicht einmal darüber, was vielleicht gemeinsam gespielt werden könnte! Der Wille etwa jedes zwölften Wählers dieser Republik soll also nicht einmal zur Kenntnis genommen werden?

Wer dies in sein Verständnis von Demokratie einschließt, möglicherweise sogar Wahlgesetzänderungen herbeiführt, um mit der fünften Partei nicht doch irgendwann reden, vielleicht sogar regieren zu müssen, indem er ihr den Einzug ins Parlament per Gesetz verbietet, möge bedenken, daß dann ein wachsender Volksteil zu außerparlamentarischen, von den »Demokraten« meist verpönten Aktionen gedrängt wird.

Und wo liegen die Interessen des Volkes, der Masse der Bürger? Neben einer Politik des Friedens und der Völkerverständigung doch wohl in einer angemessenen Teilhabe jedes einzelnen am allgemeinen gesellschaftlichen Wohlstand durch entsprechende Bildungsmöglichkeiten, durch gesicherte und existenzsichernde Einkommen aus stabilen Arbeitsverhältnissen und durch ein Sozialsystem, das auch bei Krankheit und im Alter vor Elend schützt. Die große Mehrheit des Volkes, der Wähler, dürfte die Wahrnehmung dieser grundlegenden Interessen noch immer von der solidarisch orientierten Politik einer dem Volkswohl verpflichteten Regierung erwarten.

Die heute meinungmachenden Neoliberalen begreifen die Gesellschaft nicht als eine politisch zu leitende und zu gestaltende Solidargemeinschaft von Bürgern, sondern als eine »Spielgemeinschaft« privater Kontrahenten in einem weltweiten Verteilungs- und Verdrängungswettbewerb nach den Kampfregeln internationaler Waren- und Finanzmärkte. Daß gerade letztere durch eine irrationale Aufblähung von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer absurder wurden und von Jahr zu Jahr instabiler werden, scheint niemanden zu irritieren. Von um den Erdball strömenden »Finanztiteln« im Umfang von über hundert Billionen Dollar ist heute die Rede: tausend mal tausend mal tausend mal tausend mal hundert!

Diese Finanzmärkte sind zunehmend von verlustreichen Betrügereien und Zusammenbrüchen gekennzeichnet und immer weniger zu durchschauen. Wer von den Großanlegern, Banken, Versicherungen und Konzernen, geschweige denn von den wirklich privaten Kleinanlegern, weiß heute noch, wer wo mit seinem Vermögen wie im Spielcasino spekuliert? Der Bevölkerung ist es offenbar ziemlich egal, wer, also welche Partei, ihre Interessen durchsetzt und wie. Hauptsache, sie werden überhaupt durchgesetzt. Und schon so oft betrogen, schwankt sie, vergibt mal an die einen, mal an die andere gläubig hoffend ihre Gunst und Stimme und manchmal auch einer neuen.

Und in zunehmendem Maße vertraut sie gar nicht mehr der Politik, geht nicht mehr zur Wahl, pfeift auf eine Demokratie, die keine ist und die die Maske fallen läßt, wenn wirkliche Demokratie als Realisierung des Volkswillens durch »falsche« Wahlentscheidung des Volkes droht.

Wahlrechtsreformer sollten daher die Frage schärfer stellen: Haben Wahlen überhaupt noch einen Sinn, und ist Demokratie überhaupt eine Frage von Wahlen? Welcher Wähler kennt denn seinen Favoriten tatsächlich und kann gar dessen persönlicher Integrität vertrauen? Zumal dieser ja ohnehin nicht tun kann, was er möchte und versprach, sondern in seinen späteren Entscheidungen objektiven und subjektiven Sachzwängen sowie den Einflüsterungen seiner Berater, eines Heeres von Lobbyisten, unterliegt. Welcher Wähler kann der Abgeordneten Kompetenz beurteilen – geschweige denn die Programme und Strategien der Parteien in den Sachfragen? Ich jedenfalls traue mir das alles nicht mehr zu und weiß nicht, wem ich es zutrauen sollte. Ich sehe nur, daß überall Glaube grassiert, wo Wissen stehen und entscheiden sollte.

Im vorigen Blättchen setzte sich Wolfgang Sabath kritisch mit unseren gewesenen und vielfach noch vorhandenen Gewißheiten über »Sozialismus«, »Demokratie« und »Avantgarden« auseinander, »bizarre Erscheinungen« vor allem in der außereuropäischen Welt erwartend. Dem stimme ich zu, würde aber nicht ausschließen, daß auch in Europa politische Systeme und Strukturen entstehen beziehungsweise geschaffen werden, die mehr den früheren in Osteuropa als dem Parlamentarismus Westeuropas ähneln. Viele Gründe, auch politökonomisch-theoretische, ließen sich für diese Befürchtung anführen.

Der europäische Handlungsrahmen wird in Politik, Wirtschaft, Finanz- und Sozialwesen dominierende Bedeutung gewinnen. Ohne eine stabile, vernunftorientierte, fachmännische »Verwaltung der gesellschaftlichen Angelegenheiten« wird man dabei nicht auskommen. Der bürgerliche Parlamentarismus, eigentlich das politische System des bürgerlichen Nationalstaats und des »klassischen Kapitalismus’« des 19. Jahrhunderts, wird dieser Aufgabe immer weniger gewachsen sein; er wird ihr schon längst nicht mehr gerecht. Das Tempo des künftigen Wandels dürfte davon abhängen, wie rasch sich diese Gesellschaft als ganze und vor allem ihre »Eliten« des Wesens der Veränderungen in den Wirtschafts- und Finanzbeziehungen, deren weitestgehender Vergesellschaftung bei gleichzeitiger Aushöhlung alles »Privaten«, bewußt und dementsprechend handlungswillig werden. Das »Private« ist weitgehend zu einer juristischen Fiktion von Ansprüchen geworden, die mehr von Illusionen als von stofflicher Realität gespeist werden. Wenn nicht Einsicht in die Notwendigkeit rasche und bedeutende Veränderungen bewirkt, wird eine lange Kette an Krisen sie in tausend kleinen Schritten erzwingen – sofern nicht wieder einmal Gewalt zur ultima ratio wird.