von Kurt Merkel
Kürzlich war ich bei einem anregenden Vortrag von Christoph Zöpel, Staatsminister a.D., zum Thema Die eine Weltgemeinschaft – Politik für neun Milliarden Menschen. Den Ausgangspunkt für seine Überlegungen fand Zöpel in einer Kritik der gegenwärtigen Lage, die seiner Meinung nach davon bestimmt sei, daß vorhandene Institutionen, Mechanismen und anerkannte Prinzipien des Handelns im internationalen Verkehr den Verhältnissen, wie sie tatsächlich sind, in keiner Weise entsprechen. So könne nicht erwartet werden, daß der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bewaffnete Konflikte verhindere, entschärfe oder löse, denn seine Zusammensetzung spiegele eine Situation wieder, wie sie am Ende des Zweiten Weltkriegs bestanden hatte, aber nicht das heute bestehende Kräfteverhältnis. Auch das allgemein anerkannte Prinzip der Gleichheit aller Völkerrechtssubjekte, in erster Linie also aller Staaten, sei in Wirklichkeit nicht wirksam. Global handlungsfähig seien heute eigentlich nur die Vereinigten Staaten und China.
In der Kritik der unbefriedigenden internationalen Lage, in der längst nicht nur die mächtigen Staaten, sondern nun auch ganz anders organisierte Bewegungen ihre Ansprüche vortragen und damit vorhandene Widersprüche weiter zuspitzen und zu terroristischen Aktionen und zu Kriegen entwickeln können, kann man sich schnell einig sein. Wie die Weltgesellschaft sich aber auf welcher Grundlage neu formieren könne, bleibt eine Aufgabe der Zukunft. Der Vortragende, der sich unter anderem auf die Arbeiten des Systemtheoretikers Niklas Luhmann bezog, war denn auch klug genug, den utopischen Charakter weiterführender Überlegungen zu benennen und deutlich zu machen, daß die Aufhebung heute vorhandener, wenn auch unbefriedigender Instrumente, daher nicht das sofortige Ziel sein könne.
Zu den vielen Wortmeldungen in diesem Umfeld gehört die von Amartya Sen, Harvard-Professor und Träger des Nobelpreises für Ökonomie, der seinen theoretischen Beitrag seit Jahren weltweit verkündet und nun auch in einem erfreulich schmalen Band unter dem Titel Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt (Verlag C. H. Beck München 2007) vorgelegt hat.
Der bestimmende Gedanke Sens ist die Feststellung einer pluralen Identität jedes Menschen, der nicht nur durch seine Zugehörigkeit zu einer durch Kultur, Sprache, Zivilisation oder Religion definierten Gruppe bestimmt sei, sondern zugleich und unabhängig von dieser viele weitere Identitäten habe, etwa als Arbeiter, Liebhaber von Musik, Heterosexueller oder was auch immer. Diese Identitäten nun seien zwar nicht oder nur begrenzt frei wählbar, in verschiedenen Kontexten könne aber jeder relativ frei über die Bedeutung der jeweiligen Zugehörigkeiten, über ihre Prioritäten, entscheiden. Auf einem Soziologenkongreß sei ein Soziologe sicher und anerkanntermaßen in erster Linie Soziologe, dagegen nutze es ihm wenig, wenn er, werde er als »Scheißneger« beschimpft, dem Angreifer entgegnet, er sei Soziologe. In der Situation handele er notwendigerweise fremdbestimmt.
Die wesentliche Ableitung Sens ist die Ablehnung einer solitaristischen Deutung der menschlichen Identität, die nicht nur jeden Menschen mißverstehe, sondern mit der Zuweisung jedes einzelnen in eine nicht von ihm gewählte Gemeinschaft zur Grundlage sektiererischer Gewalt werden könne. Gegen Huntington gewandt, formuliert er, die ausschließliche Betrachtung der Welt als Ansammlung von Religionen oder Zivilisationen und ihre Aufteilung in Schubladen könnten Konflikte auslösen, Chancen auf Frieden hingen dagegen von der Anerkennung der Pluralität der Identitäten, von der Anwendung der Vernunft ab.
Singularität der Betrachtung des Menschen reduziere ihn, lege ihn auf nur eine der in ihm vorhandenen Identitäten fest, beraube ihn damit seiner Fähigkeit zu flexiblem Handeln. Eine solche eingeschränkte Haltung sieht Sen als den Grundfehler in Huntingtons Theorie vom Kampf der Kulturen, deren Einfluß er nicht nur auf die Theoriebildung, sondern vor allem auf die praktische Politik als eines der Grundübel der gegenwärtigen Weltlage sieht. Sen tritt als Anwalt der weitgehenden Entscheidungsfreiheit eines jeden Menschen auf – die nicht erst in einer zukünftigen Weltgesellschaft, sondern schon in der heute vorhanden Form mißachtet oder mißdeutet werde, wenn jeder einzelne Mensch im kommunitaristischen Sinne vorwiegend oder ausschließlich als Teil einer jeweils einzigen Gemeinschaft betrachtet werde.
So richtig Sens These ist, daß die Erstrangigkeit der Gruppenzugehörigkeit überwunden werden müsse, um gegenseitiges Verstehen und Austausch – also Begegnung auf anderen Ebenen – zu ermöglichen, daß der Kampf gegen islamischen Fundamentalismus sich also nicht auf den Islam konzentrieren dürfe (siehe auch Mamdani, Guter Moslem, böser Moslem, in: Blättchen 16/2000), so wenig kann man seiner Zuspitzung folgen, daß Unternehmungen wie Freundschaft zwischen den Kulturen, Dialog zwischen religiösen Gruppen, freundschaftliche Beziehungen zwischen unterschiedlichen Gemeinschaften nicht hilfreich seien.
Den historischen Beitrag des Ostens zur kulturellen, wissenschaftlichen und technischen Entwicklung sieht Sen in der heute vom Westen bestimmten Welt aufgehoben. Das Gefühl anhaltender Abhängigkeit von den früheren Kolonialmächten und die Ablehnung von Ideen, die als westlich verstanden werden, sind so eine reaktive Selbstwahrnehmung, die zwar auf Unabhängigkeit gerichtet ist, doch die tatsächliche Fremdabhängigkeit nicht überwinden kann. Die Propagierung asiatischer oder islamischer Werte gegen westliche Lebensvorstellungen sind dann Ausdruck der Suche nach kulturellen Ursachen für die wirtschaftliche Lage und haben kulturelle Intoleranz zur Folge.
Kultureller Konservativismus, Verteidigung zufälliger Traditionen erhalten so Vorrang vor der Förderung kultureller Vielfalt, die Ausdruck und Ergebnis der kulturellen Freiheit ist. Da Unfreiheit auch aus dem Nichtkennen anderer Kulturen entsteht, lehnt Sen folgerichtig zum Beispiel die Förderung islamischer Konfessionsschulen (wie übrigens auch christlicher) in den westlichen Immigrationsländern ab. Eine solche Politik schaffe die falsche Vision vom Staat als Föderation von Gemeinschaften statt als Gesellschaft mit Unterschieden. Nicht Multikulturalität entstehe so, sondern die Pluralität von Monokulturen.
Es ist nicht zu übersehen, daß Sen den Beitrag des Ostens zur angestrebten Weltgesellschaft lediglich als einen historischen versteht, der im westlichen Status quo längst aufgehoben sei. Die Aufforderung an jeden, sich seiner Wahlfreiheit zu bedienen und die Prioritäten zwischen seinen vielfältigen Identitäten so zu bestimmen, daß eine konfliktbereinigte Weltgesellschaft entstehen kann, ist daher eine Aufforderung vor allem an die Menschen im und Immigranten aus dem Osten: im Interesse dieser zukünftigen Weltgesellschaft den einzigen Schutz, den sie haben, aufzugeben, die Zugehörigkeit zu einer sich anders definierenden Gemeinschaft. Eine freie Entscheidung ist für Sen nur eine in diesem Sinne.
Beschrieb Huntington eine aus verschiedenen Kulturkreisen bestehende Welt, die friedlich sein kann, wenn diese Kreise sich gegenseitig akzeptieren und Berührungen möglichst vermeiden (siehe auch Blättchen, 6/2002), besteht Sens Welt aus Individuen, die sich jeweils frei für die Priorität solcher Identitäten entscheiden, die sie nicht mit anderen in Konflikt kommen läßt. Eine friedliche Welt setzt so die Wandlung der heutigen Menschen mit ihren Einbindungen in solche neuen Menschen voraus. Auf dem Wege dahin bilde sich eine globale Identität heraus, ohne auf einen globalen Staat zu zielen und ohne lokale Loyalitäten zu ersetzen.
Über all das könnte man sprechen, bezöge der Diskurs Kritik am Kapitalismus und damit den notwendigen Wandel in der westlichen Welt ein. Sen aber hält die auch von ihm gesehenen globalen Ungerechtigkeiten und die Chancenungleichheit nicht für Wesensmerkmale der Globalisierung, sondern für Versäumnisse von Politik und Wirtschaft, die durch staatliche Maßnahmen beseitigt werden könnten. Die Globalisierungskritik, meint Sen, sei, da sie selbst eine globale Erscheinung sei, mithin Teil der Globalisierung. Das stimmt so, wie der Aufruf des Kommunistischen Manifests im neunzehnten Jahrhundert Proletarier aller Länder, vereinigt euch! eine Losung in der kapitalistischen Gesellschaft zu ihrer Überwindung war.
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