Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 4. Februar 2008, Heft 3

Laoshu: Ratte oder Maus?

von Susanne Buschmann

Das erste, was ich als frischgebackene Sinologie-Studentin der Berliner Humboldt-Universität im Herbst 1958 erlebte, war die Kartoffelernte auf einem brandenburgischen Acker. Man hatte uns gemeinsam mit unserem chinesischen Professor aufs Land geschickt, um den überlasteten LPG-Bauern hilfreich zur Seite zu stehen. Natürlich war alles Hand- und Rückenarbeit. Professor Zhao hielt kräftig mit, war uns manchmal sogar in der Furche ein Stück voraus. Es war unübersehbar: Man hatte ihn in seiner Heimat ideologisch darauf vorbereitet, daß körperliches Tun auf dem Lande »dem Intelligenzler nur gut tun kann«.

Professor Zhao war vorsorglich mit überdimensionalen Gummistiefeln an den Füßen erschienen. Deren wichtige Funktion zeigte sich bald, als er auf dem Acker aus heiterem Himmel in einen wilden Stiefeltanz ausbrach. Das war ein Hüpfen, Stampfen und Springen! Wir erkannten den zartgliedrigen Mann aus China gar nicht wieder. Zumal er aufgeregt ein Wort schrie, das keiner von uns verstand: »Laoshu! Laoshu!« Einige von uns lachten verständnislos, andere meinten erschrocken, der Professor sei gewiß von einer Wespe gestochen oder einer Schlange gebissen worden. Man müsse Hilfe holen. Daß Herr Zhao indes ganz so, wie es eine damalige chinesische Massenkampagne verlangte, mit aller Konsequenz eine kleine Feldmaus verfolgte – das war uns damals völlig unverständlich. Nun war also der politische Kampf gegen das Mäuse-Getier bis nach Brandenburg gedrungen!

Ich lernte meine erste chinesische Vokabel nicht auf der Universität, sondern bei körperlicher Arbeit auf einem herbstlichen Acker: laoshu – die Maus. Im Gegensatz zu anderen Wörtern habe ich laoshu nicht wieder vergessen. Vielleicht auch deswegen, weil Professor Zhao das niedliche Tier trotz aller Bemühungen nicht zu erwischen vermochte.

Später erfuhr ich zu meiner Verblüffung, daß die bei uns so ungeliebte Ratte in China ebenfalls laoshu heißt. Das stürzte mich in ziemliche Verwirrung und Ratlosigkeit. Begehen die Chinesen 2008 nun als das Jahr der Maus – oder der Ratte? Das ist doch ein großer Unterschied! Oder unterscheidet das Reich der Mitte wirklich nicht zwischen den beiden Nagern?

Wir jedenfalls tun es. Das erkennt man schon an den lateinischen Bezeichnungen: Während die Ratte wissenschaftlich schlicht Rattus heißt, gibt sich die Maus damit nicht zufrieden. Da gibt es Mus musculus domesticus, die Hausmaus, die sich gern in unseren Behausungen versteckt. Oder Mus musculus musculus, wider Erwarten keine kräftige Muskelmaus, sondern eine auf dem Acker lebende Ährenmaus. Oder die Zwergmaus, die den vornehmen Namen Micromys minutus trägt.

Da kann Rattus wirklich nicht mithalten. Man braucht bloß an den Rattenfänger von Hameln zu denken, der 1284 die vielen Ratten im Rhein ertränkte und schließlich noch 130 Kinder kidnappte! Ratten beißen auch. Wer von einer Ratte gebissen wird, sollte möglichst bald zum Arzt gehen, damit er nicht das Rattenfieber bekommt. Selbst Gerhart Hauptmann kamen Die Ratten nicht ganz geheuer vor, weshalb er die fiesen Figuren in seinem Theaterstück mit den großen Nagern verglich.

Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Keiner möchte gern mit einem Menschen zu tun haben, der eine »miese Ratte« ist.

Das ganze Gegenteil ist die Maus. Das liebliche Tier fungiert als Heldin in vielen deutschen Sagen und Märchen. Man denke nur an die Maus von Altenahr, die im Kerker schmachtende Gefangene befreite. Oder an die Sendung mit der Maus. Als Kosewort hat das Mäuschen, Mäuseken oder Mausli einen ganz besonderen Klang. Natürlich kann das Wort Mäuschen, von Männern gesprochen und mit entsprechenden Blicken garniert, auch sehr erotisch wirken. Freunde von mir nennen ihre Tochter Mausebein. Ist das nicht lieb? Und wenn die arme Kirchenmaus mehr »Mäuse« hätte, würde sie bestimmt woanders hinziehen.

Was aber ist nun mit der chinesischen laoshu? Im Zwölf-Jahres-Zyklus des chinesischen Mondkalenders wird jedes Jahr von einem anderen Tier repräsentiert. Laoshu führt seit dreitausend Jahren den Reigen an. Im laoshu-Jahr Geborenen wird eine Vielzahl von angenehmen Eigenschaften zugesprochen. Vor allem seien sie charmant, kontaktfreudig, intelligent und erfinderisch, humorvoll, treu und romantisch. Allerdings würden laoshu-Menschen zu Zeiten gern mit List ans Werk gehen – oder sollte man eher von »diplomatischem Geschick« sprechen? Und hin und wieder zeige sich auch ein etwas aggressiver Zug. Nun denn: Wenn der mit Kreativität gepaart ist, könnte man es noch tolerieren.

Kurz und gut: Ich fühle mich als Interessenvertreterin der Maus und schlage vor, daß Journalisten und andere Sprachkünstler 2008 nicht als »Jahr der Ratte«, sondern »Jahr der Maus« bezeichnen. So müssen wir nicht befürchten, daß unsere Babys, von denen wir sowieso zu wenige haben, als »Rattenkinder« ins Leben treten. Dagegen lauter charmante kleine Mäuse in diesem Jahr – das ist doch eine sehr motivierende Vorstellung! Zugleich wäre es China gegenüber eine noble Geste, ein Akt des guten Willens – oder nicht?

Übrigens vermute ich, daß es in China doch irgendeinen Geheimcode gibt, um Maus und Ratte zu unterscheiden, den man uns Europäern aber nicht verraten will. Falls ich mich irre: Wäre es da nicht erfreulich, wenn chinesische Germanisten ein wenig Ordnung in den Übersetzungssalat von Mäusen, Ratten und laoshu brächten?