Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 4. Februar 2008, Heft 3

Kein Ende der Gewißheiten

von Wolfgang Sabath

Warum fällt es uns Menschlein gemeinhin so schwer, von alten Gewißheiten zu lassen? Und wenn wir ihrer verlustig gehen oder sie uns von der Realität schließlich doch – oft schmerzhaft und auch unter Klagen und Wehgeschrei – ausgetrieben worden sind: Warum, zum Teufel, dauert es dann in der Regel nicht lange, und wir haben wieder neue, andere oder ähnliche parat? Aufklärung? Fehlanzeige. Ratio? Fehlanzeige.

Möglicherweise aber ist diese Frage gar keine politische, sondern eine bio-psychologische, vielleicht sind Gewißheit und Gewißheiten ein menschliches Grundbedürfnis? Um das zu »untermauern«, muß ich ja hier nicht unbedingt einen Autoritätsbeweis antreten, gebe aber einfach mal zu bedenken, daß schon Balzac der Ansicht war: »Gewißheit ist die Grundlage, nach der die menschlichen Gefühle verlangen.«

Auch so ein realitätennaher und unprätentiöser Autor wie Erhard Crome ist offenbar anfällig für Gewißheiten. So schrieb er beispielsweise in seinem bedenkenswerten Beitrag Sozialismus-Streit (Blättchen, 1/2008) über die gegenwärtigen Debatten über künftigen Sozialismus (oder künftige Sozialismen?) unter anderem: »Eines allerdings steht fest: Es kann nur ein ›demokratischer Sozialismus‹ sein, oder es ist keiner.« Ein unzweifelhaft nobler Satz, eine unzweifelhaft noble Idee, eine unzweifelhaft noble Vorstellung. Und in Deutschland und anderen Teilen Mitteleuropas anerkannt und nur von zu vernachlässigenden Randgruppen in Frage gestellt. Er ist, sozusagen, auch eine »Gewißheit«. Die steht uns nach unserem Scheitern (das nicht einmal ein grandioses war, sondern doch ziemlich piefig ablief, mir fallen da immer zuerst die »Westwasserhähne« in Wandlitz ein …), natürlich gut zu Gesicht. Und der es nach dem, was wir zuvor mit der Idee Sozialismus angestellt hatten – nicht der Honecker war’s! – an Eingängigkeit nicht fehlt.

Indes: Beweist das alles schon, daß dieses von Crome aufgenommene Diktum der deutschen Linken (und, ich bitte darum: nicht nur der LINKEN!) stimmt? Natürlich wollen wir, so wir uns als Linke begreifen, daß das so ist. Aber woher wissen wir eigentlich, daß es nicht – etwa außerhalb Europas – eines Tages Entwicklungen gibt, die uns und unsere mittel-europäische Selbstgewißheit, um es salopp auszudrücken, alt aussehen lassen werden? Es sei denn, wir begreifen Demokratie als Selbstzweck und nicht als Methode, um Wohlfahrt, Gerechtigkeit und dergleichen zu erreichen. Aber Demokratie an sich? Ich weiß es doch auch nicht, erlaube mir aber, zu bedenken zu geben. Dem Indio ist, vielleicht, der Sack Mais wichtiger als die Wahlurne …

An anderer Stelle seines Blättchen-Artikels befindet Erhard Crome, die Alternative (zum Kapitalismus) komme »nicht aus den Gewehrläufen selbsternannter Avantgarden«. Woher weiß er das? Er wünscht sich das, gut so. Aber Geschichte verläuft nicht »wunschgemäß«. Als geübte Leser von Sonntagsartikeln der Tageszeitung oder anderer Historienartikel wissen wir natürlich, wer inzwischen mit »selbsternannter Avantgarde« gemeint ist. Aber erstens sehe ich in anderen Teilen der Welt in Ansätzen durchaus »selbsternannte Avantgarden« revolutionär zu Werke gehen; nein, mit Demokratie hat das oft nichts zu tun. Aber muß das zwangsläufig auch mit Sozialismus nichts zu tun haben? Ich weiß es nicht.

Zweitens: Mit der Formulierung »selbsternannte Avantgarde« greift der Autor – nicht ungeschickt – insofern in eine argumentative Trickkiste, als das Begriffspaar suggeriert, »selbsternannt« und »Avantgarde« gehörten quasi naturgemäß zusammen. Was aber, wenn wir es – wo und wann und wie auch immer – mit einer Avantgarde zu tun bekommen, die sich nicht selbsternannt hat? Man wird doch noch mal fragen dürfen.

Will sagen: Es ist alles wieder offen. Zum Beispiel bin ich mir nicht einmal mehr sicher, ob wir im Osten Deutschlands ein Sozialismus-»Projekt« gegen den Baum gefahren haben – weil ich nicht weiß, ob es (historisch gesehen) wirklich ein Projekt gewesen ist, und nicht vielmehr eine Projektion der Großmacht UdSSR auf einen Teil Deutschlands, die auch dann passiert wäre, wenn der Sieger nicht Sowjetunion, sondern Rußland geheißen hätte. Denn Hitler war es doch nicht um einen »Kampf gegen den Bolschewismus« gegangen, sondern um die Kornkammer Ukraine und die Ölfelder von Baku.

Ferner ist offen, was wir alles an Sozialismen noch zu erwarten haben werden. Nicht offen ist meines Erachtens, daß wir es in dieser Hinsicht auch weiterhin noch mit zahlreichen bizarren Erscheinungen zu tun bekommen werden, die unsere zentraleuropäischen Sichtachsen beträchtlich verbiegen könnten. Zum Beispiel dürften Chavez oder der derzeit zur Unsterblichkeit verurteilte Castro noch längst nicht das Letzte gewesen sein. Dagegen helfen nur unsere Gewißheiten. Die sind uns sicher.