Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 4. Februar 2008, Heft 3

Gandhi

von Viola Weinert, Jochen Mattern

Mit drei Pistolenschüssen, abgefeuert aus nächster Nähe, tötete am 30. Januar 1948 ein Hindunationalist Mohandas Karamchand Gandhi (geboren 1869), einen Politiker, der sich weit über Indien hinaus ein hohes Ansehen erworben hatte. Seine Politik des zivilen Ungehorsams trug maßgeblich zum Ende der britischen Kolonialherrschaft in Indien bei und strahlte auch auf westliche Demokratiebewegungen aus, insbesondere auf die Bürgerrechtsbewegung in den USA. Deren Anführer Martin Luther King (1929–1968) fiel ebenfalls einem Attentat zum Opfer.

Als Mahatma, die große Seele, verehren viele Inder Gandhi. Zu den Beisetzungsfeierlichkeiten versammelten sich Millionen Menschen, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Darunter waren Regierungsoberhäupter und Würdenträger aus aller Welt. Heute jedoch, sechzig Jahre nach seinem gewaltsamen Tod, ist Gandhi fast völlig vergessen.

Obwohl kein Pazifist, pflegte Gandhi ein Politikverständnis, das auf dem Prinzip der Gewaltfreiheit gründete. Seine Methode des gewaltlosen politischen Kampfes, oft fälschlicherweise als passiver Widerstand bezeichnet, und die Unabhängigkeit Indiens von der britischen Kolonialmacht waren die beiden Hauptpunkte seines politischen Programms. Indien errang 1947 seine nationale Unabhängigkeit, ohne einen bewaffneten Befreiungskampf gegen die britische Kolonialmacht geführt zu haben. Zur Erringung der Selbstregierung des Landes (hind swaraj) bevorzugten die Inder das Mittel des massenhaft geübten zivilen Ungehorsams. Das Repertoire an gewaltfreien politischen Aktionsformen, derer sich Gandhi und seine Anhänger bedienten, reichte von der Nicht-Zusammenarbeit mit der Kolonialmacht über den Boykott ausländischer Produkte, die Steuerverweigerung, den Streik, Kundgebungen, Märsche bis hin zum gezielten, symbolisch aufgeladenen Gesetzesbruch, dem zivilen Ungehorsam im engeren Sinne. All diese Aktionsformen verlangten den Beteiligten das freiwillige Ertragen von Leid ab und die Inkaufnahme von Gefängnisstrafen.

Eine gewaltsame Gegenwehr kam für Gandhi und seine Anhänger dabei nicht in Betracht, nicht einmal aus Gründen der Selbstverteidigung. Gewaltfreie politische Aktionen appellieren an die Moral des politischen Gegners und beruhen auf der Überzeugung, daß unlautere Mittel das Ziel des politischen Kampfes kompromittieren.

Entwickelt hatte Gandhi die Methode des gewaltfreien Kampfes während seines Aufenthaltes in Südafrika nach 1893. Nach seiner Rückkehr im Jahr 1915 wandte er diese Methode auf die Gegebenheiten in Indien an. Die Idee und Praxis der Nicht-Anwendung von Gewalt faßte Gandhi unter den Begriff Satyagraha zusammen. Das Wort war eine Neuschöpfung aus zwei altindischen Wörtern: aus satya, das Wahrheit bedeutet, und aus agraha, das mit Festhalten übersetzt wird. Satyagraha meint folglich »das Festhalten an Wahrheit« oder auch das Durchsetzen der Wahrheit.

Weil sich aber die Wahrheit für Gandhi, obwohl er sie mit Gott gleichsetzte, einer letzten Begründung entziehe, folglich niemals feststehe, erhielt das Festhalten an der Wahrheit einen normativen Sinn: Es wurde zur vornehmsten Aufgabe menschlicher Existenz, die darüber zum experimentellen Umgang mit der Wahrheit geriet. Deswegen konnte Gandhi seiner Autobiographie auch den Titel Experimente mit der Wahrheit geben. Weil die Wahrheit kein unumstößliches und für alle verbindliches Dogma ist, schließe das Ringen um die Wahrheit den Gebrauch von Gewalt kategorisch aus. Das sind Überlegungen, die an Lessings Ringparabel erinnern, die auch die Praxis, das Alltagshandeln, zum Prüfstein der Wahrheit erklärt.

Die Veränderung der Gesellschaft und des eigenen Selbsts gehören für einen Verfechter von Satyagraha unbedingt zusammen. Satyagraha beinhaltet folglich nicht nur eine Methode des politischen Kampfes, sondern auch eine ethisch, vorwiegend religiös bestimmte Lebens- und Verhaltensweise, die Gewalt als Mittel ausschließt und auf der gleichen Achtung aller Lebewesen beruht.

Mit Blick auf die Tiere zeigte sich das in Gandhis streng vegetarischer Lebensweise, die nur pflanzliche Kost erlaubte. Mit Blick auf die Menschen wurde der Grundgedanke gleichen Respekts für alle in Gandhis Eintreten für die Unberührbaren deutlich. Weil sie nur unreine Arbeiten verrichten dürfen wie das Reinigen der Aborte und das Abdecken von Tierkadavern, werden sie von den übrigen Indern gemieden und keiner Kaste zugeordnet. Gandhi betrachtete sie dagegen als Harijans, als Kinder Gottes, und setzte sich für deren soziale und politische Gleichberechtigung ein. Er rüttelte damit an die Grundfesten der indischen Sozialordnung, die auf einer streng hierarchischen Einteilung der Inder in ein System unterschiedlicher Kasten beruht.

Dem westlichen politischen Denken mag eine Verbindung von religiöser Ethik und politischem Handeln fremd sein. Doch zur Richtschnur seines Handelns das zu machen, was die Menschen eint, und nicht das, was sie trennt – dazu bedarf es keiner religiösen Begründung.