Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 21. Januar 2008, Heft 2

Verabschiedung

von Bernhard Romeike

Als auf der letzten DDR-Forschertagung im Mai 1991 in Bonn-Röttgen die Eigenheiten der Transformation des politischen Systems in der DDR aufgerufen worden waren, entspann sich eine angeregte Diskussion um die Frage, was denn die günstigsten politischen Bedingungen für eine erfolgreiche Entwicklung im Osten Deutschlands wären. Mehrheitlich wurde betont, am besten wäre eine Art »Ost-CSU«, eine in der Gesellschaft breit verankerte Volkspartei, die die Interessen der Ostdeutschen gegenüber der Bonner Regierung zielgerichtet vertrete; ohne eine solche politische Vertretung, die von einem sichtlichen Wählerwillen im Osten getragen wird, werde es keine wirkliche Wahrnehmung der Interessen der dort lebenden Menschen geben, und diese würden dauerhaft Spielball der parteipolitischen Interessen der westdeutschen politischen Klasse bleiben. Für eine solche Variante jedoch bestünden nicht die politischen Voraussetzungen: Die CDU und die SPD könnten schon aus ihrer inneren Verfaßtheit heraus diese Rolle nicht spielen; die PDS sei eigentlich dafür prädestiniert, aber wegen ihrer Herkunft aus der früheren Staatspartei gehindert, diese Rolle zu spielen.
Unter PDS-Funktionären, die seit der »Wende« und der deutschen Vereinigung vor allem kommunalpolitisch wirkten und wachsenden Wählerzuspruch erhielten, kam in den neunziger Jahren die Idee auf, dies versuchen zu sollen. Am deutlichsten kam das zum Ausdruck in einem »Brief aus Sachsen«, den die damalige Dresdner PDS-Stadtvorsitzende Christine Ostrowski und der PDS-Fraktionsvorsitzende Ronald Weckesser am 7. Mai 1996 veröffentlichten. Darin erklärten sie die Westausdehnung der PDS für »objektiv gescheitert« und »das Buhlen um versprengte Westlinke eher hemmend« für die weitere Entwicklung der PDS im Osten.
Sozialismusvorstellungen müßten aus den Alltagserfahrungen resultieren. »Wir verstehen Sozialismus als einen Begriff zur Umschreibung eines demokratischen Gemeinwesens«, meinten die Autoren, »das zu einer marktwirtschaftlich begründeten Wertschöpfung und sozialem Ausgleich fähig ist.« Dann wäre Ludwig Erhard auch Sozialist gewesen. Damit so etwas nicht diskutiert werden solle, betonten die sächsischen Briefschreiber denn auch: »Es kann nicht angehen, daß sich anerkannte PDS-Bürgermeister parteiintern vor den Vertretern irgendwelcher Theorien moralisch rechtfertigen müssen.«
Marian Krüger, damals Mitglied des Berliner PDS-Landesvorstandes, war einer derjenigen, die verstanden, daß dieses »Ostrowski-Papier« auf eine weitreichende Richtungsentscheidung zielte und nicht einfach eine der üblichen programmatischen Auseinandersetzungen war. »Es geht darum«, stellte er fest, »ob die PDS sich in ihrer politischen Praxis zur staatstragenden Partei entwickelt. Es geht darum, ob sie in der sozialen Frage die Fronten wechselt, um als rotlackierte Regionalpartei die Hilfskellnerin am Tisch der Mächtigen zu geben.«
Im Jahre 2004 überstiegen die Ausgaben der Stadt Dresden erstmals sichtlich die Einnahmen. Der Fehlbetrag für 2004 wurde mit 67 Millionen Euro kalkuliert, für 2005 mit 62 Millionen Euro. Das Regierungspräsidium drohte mit Zwangsverwaltung der Stadt. Die Ursachen waren struktureller Natur: Die Steuereinnahmen gingen zurück, und die zusätzlich zu erfüllenden Aufgaben stiegen an, insbesondere wegen der Grundsicherung und der Übernahme der Mieten samt Nebenkosten bei Hartz IV, die durch Bund und Land nicht ausgeglichen werden.
In dieser Situation wurde die Idee lanciert, den gesamten Bestand des kommunalen Wohnungseigentums der Stadt Dresden – das waren 47567 Wohneinheiten in der WOBA – an einen privaten Bieter zu verkaufen. Am 14. Juli 2005 beschloß der Stadtrat diesen hundertprozentigen Verkauf, um die Stadt vollständig zu entschulden. Dafür stimmten auch neun der siebzehn Stadträte der PDS; ohne sie hätte es die Mehrheit im Stadtrat nicht gegeben.
Seither gab es eine zugespitzte politische Diskussion um die Privatisierung kommunalen Eigentums in der PDS, die sich in die LINKE hinein fortsetzte. Christine Ostrowski und Ronald Weckesser, die den Beschluß in der Dresdner PDS maßgeblich betrieben hatten, schrieben wieder einen Brief, diesmal unter dem Titel: »Die neue Linkspartei aus den Fesseln alten Denkens befreien«, und veröffentlichten ihn am 9. März 2006. Darin wurden Kritiker des Verkaufs beschuldigt, »erbitterte ideologische Grabenkämpfe« austragen zu wollen; insbesondere Oskar Lafontaine sei der Scharfmacher.
Wieder wurde das Anstehen einer »Grundsatzentscheidung« ausgemacht: »Linke Realpolitik oder ideologische Symbolpolitik«. Die eigentliche Frage, ob denn eine Stadt wie Dresden mit dem Totalverkauf nicht auf ein wichtiges kommunalpolitisches Steuerungsinstrument verzichtet, wird auf den fast vier Seiten des Briefes allerdings nicht beantwortet. Dafür lautet der Schluß: »Gerade angesichts unbestreitbarer Fakten wie demographische Entwicklung und Globalisierung ist unsere soziale Idee nur dann langfristig für viele, gerade jüngere Menschen attraktiv und in der politischen Konkurrenz wettbewerbsfähig, wenn wir sie aus den Fesseln altsozialdemokratischen und altkommunistischen Denkens befreien. Wir sind nur erfolgreich, wenn wir innovativ sind und zu situationsadäquaten Lösungen kommen.« Der WOBA-Verkauf sei eine solche gewesen.
Auf dem PDS-Parteitag in Halle am 29. und 30. April 2006, der den Weg zur Vereinigung mit der WASG öffnen sollte, war die Zustimmung von PDS-Abgeordneten zum WOBA-Verkauf ein heiß diskutiertes Thema. Christine Ostrowski und Ronald Weckesser hatten sich vorher entschlossen, in die Offensive für ihre »situationsadäquate« Lösung zu gehen, und stellten den Antrag G4, der den Verkauf kommunalen Wohneigentums unter allerlei unklar formulierten Vorbehalten absegnen sollte. Als der Antrag dann aufgerufen wurde, gab es weder einen einzigen Fürsprecher noch eine einzige Stimme dafür.
Mit Datum vom 1. Januar 2008 hat sich Christine Ostrowski aus der Partei DIE LINKE verabschiedet. In allerlei Pressemitteilungen sind wieder Invektiven gegen Lafontaine nachzulesen; er erscheint gleichsam als der konzentrierte Ausdruck des Westlinken, den sie schon vor zwölf Jahren nicht mochte. Im Netz steht wiederum ein Brief, jetzt der des Austritts nebst Begründung. Dort heißt es: »Ich will nicht länger billigen, daß in der Partei zunehmend deklaratorische Politik dominiert, in der prinzipielle Postulate, fundamentalistische Phrasen, oberflächliche Sprüche und verbale Kraftmeierei an die Stelle konkreter politischer Arbeit treten, in der die Propagierung unrealistischer Wunschvorstellungen die Suche nach realen Gestaltungsmöglichkeiten in konkreten Situationen ersetzt und in der kein Platz für Konzepte ist, die von der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgehen.«
In all den Briefen und Erklärungen ist zu keiner Zeit ernsthaft über die Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit und Konzepte zu ihrer Veränderung gesprochen worden, sondern immer nur darüber, wie »man« sich dieser anpaßt, indem »man« das tut, was andere Parteien auch tun. Der Austritt ist nicht einfach Ausdruck des politischen Scheiterns einer Person, sondern eines Konzepts: die Linke zur »Hilfskellnerin am Tisch der Mächtigen« zu machen.