Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 7. Januar 2008, Heft 1

Finanzhypokrisie

von Joseph Stiglitz

Im Jahr 2007 erlebten wir den zehnten Jahrestag der Ostasienkrise, die in Thailand am 2. Juli 1997 begann und sich über Indonesien im Oktober nach Südkorea im Dezember ausbreitete. Sie ging dann schließlich über in eine weltweite Finanzkrise, die Rußland und einige andere Länder Lateinamerikas, wie Brasilien, erreichte und eine Serie von Kräften entfesselte, die in den folgenden Jahren fortfuhren zu wirken: Man könnte sagen, daß Argentinien in der Situation im Jahre 2001 eines ihrer Opfer war. Nach der Krise von 1997 gab es in der Welt nicht eine einzige Finanzreform von Bedeutung.

Es traf Länder, die nicht einmal an den internationalen Kapitalflüssen – dem Ursprung der Krise – teilnahmen. Eines der am meisten betroffenen war Laos. Obwohl alle Krisen gerade beendet waren, wußte in jenem Augenblick niemand um die Weite, die Tiefe, nicht einmal die Dauer der Rezessionen und um die durch sie ausgelösten Depressionen. Es war die schlimmste Krise seit der Großen Weltwirtschaftskrise.

In meiner Eigenschaft als Chefökonom und erster Vizepräsident der Weltbank war ich inmitten des Brandes und der Debatten über seine Ursachen und die politisch adäquaten Antworten. Im Sommer und Herbst 2007 habe ich wieder viele betroffene Länder, unter ihnen Malaisia, Laos, Thailand und Indonesien besucht. Es ist ermutigend zu sehen, wie sie sich erholt haben. Diese Länder haben heute ein Wachstum von fünf oder sechs Prozent und mehr; nicht so schnell wie in den Zeiten des Ostasienwunders, aber viel mehr als zahlreiche Beobachter nach der Krise voraussahen.

Viele Länder änderten ihre Politik, aber in eine andere Richtung, als sie der IWF empfahl. Die armen litten am meisten unter den Folgen: Die Löhne sanken im Sturzflug und die Arbeitslosigkeit schnellte hoch. Viele Länder entschieden sich, dem Begriff »Harmonie« eine neue Bedeutung zu verleihen – im Sinne, die Bresche zwischen Reich und Arm, Stadt und Land zu verkleinern. Sie legten auf Investitionen in Menschen mehr Gewicht, sie lancierten phantasievolle Initiativen, um mehr Bürgern Gesundheit und den Zugang zu Geld zu gewähren, und sie schufen Sozialfonds, um lokalen Gemeinden bei ihrer Entwicklung zu helfen.

Untersuchen wir die Krise zehn Jahre später, können wir mit mehr Klarheit erkennen, wie weit sich der IWF und das Finanzministerium der USA bei ihren Diagnosen, Rezepten und Prognosen irrten.

Das fundamentale Problem war die frühzeitige Liberalisierung der Kapitalmärkte. Es mutet ironisch an, wenn der Staatssekretär des US-Finanzministeriums jetzt Indien die Liberalisierung seiner Kapitalmärkte empfiehlt – gemeinsam mit China eines der beiden großen Länder, das aus der Krise 1997 schadlos herauskam.

Es ist kein Zufall, daß es den Ländern, die ihren Kapitalmarkt nicht gänzlich liberalisierten, so gut ergangen ist. Die anschließenden Nachforschungen des IWF haben all jene Studien bestätigt, die besagen: Die Liberalisierung der Kapitalmärkte verursacht Instabilität und nicht notwendigerweise Wachstum – Indien und China waren die Ökonomien, die am schnellsten wuchsen.

Selbstverständlich begünstigt die Liberalisierung der Kapitalmärkte die Wall Street, deren Interessen das US-Wirtschaftsministerium vertritt. Sie verdient Geld mit den Kapitaleingängen, mit den Ausgängen und mit der Restrukturierung, die nach dem selbst verursachten Chaos stattfinden muß. In Südkorea empfahl der IWF den Verkauf der staatlichen Banken an US-Investitoren, obwohl die Koreaner vierzig Jahre lang ihre Volkswirtschaft in einer bewundernswerten Weise mit einem größeren Wachstum und mit größerer Stabilität als die USA geführt hatten – ohne die systematischen Skandale der nordamerikanischen Finanzmärkte.

In einigen Fällen kauften US-Firmen die Banken. Sie hielten sie, bis sich Korea erholte, und dann verkauften sie sie mit Milliarden-Dollar-Gewinn. In seiner Eile, die westlichen Banken zum Kauf anzuhalten, hatte der IWF allerdings ein Detail übersehen: die Klausel, daß Südkorea zumindest einen Teil der Wohltaten über die Steuer zurückerhielt. Man kann darüber diskutieren, ob nordamerikanische Investoren mehr Erfahrungen im Bankwesen auf entstehenden Märkten hatten, aber es ist unzweifelhaft, daß sie mehr Erfahrungen in der Steuerflucht haben.

Der Widerspruch zwischen den Ratschlägen des IWF und des US-Finanzministeriums Ostasien gegenüber und dem, was in dem aktuellen Desaster der Hypotheken mit hohem Risiko geschieht, läßt sich nicht leugnen. Den ostasiatischen Länden sagte man, daß sie ihre Zinssätze erhöhen sollten, in einigen Fällen bis zu 25 Prozent, sogar 40 Prozent und mehr, wodurch eine Welle an Zahlungsunfähigkeit hervorgerufen wurde. In der aktuellen Krise haben die Zentralbank der Vereinigten Staaten und die Europäische Zentralbank die Zinssätze reduziert.

Ebenso erhielten die von der ostasiatischen Krise betroffenen Länder den Ratschlag, für mehr Transparenz und weniger Regulierung zu sorgen. Doch genau der Mangel an Transparenz war ein fundamentaler Faktor für die Kreditkrise in vorigen Sommer. Die faulen Hypotheken, eingepackt in bessere Produkte, mit denen eine Garantie vorgetäuscht wurde, waren über die gesamte Welt verteilt worden, so daß niemand mit Sicherheit sagen konnte, wer was von wem bekommen hatte.

Und nun hört man einen vielstimmigen Chor, der vor neuen Normen warnt, da sie selbstverständlich ein Hindernis für die Finanzmärkte sein könnten – nicht zuletzt für die Ausbeutung der schlecht informierten Kreditnehmer, die die Wurzel der Problems darstellt. Letzten Endes ist es den westlichen Banken gelungen, daß sie gerettet und teilweise von ihren schlechten Investitionen befreit wurden.

Nach der Krise 1997 war ein Konsens entstanden, daß eine fundamentale Reform der finanziellen Weltarchitektur notwendig sei. Aber das aktuelle System ist, obwohl es eine unnötige Instabilität hervorruft und fürchterliche Kosten den Schwellenländern aufdrängt, für betimmte Interessen nützlich. So ist es nicht befremdlich, daß zehn Jahre später nicht eine einzige Reform von Bedeutung stattfand. Auch nicht, daß die Welt erneut einer Periode der finanziellen Instabilität gegenübersteht mit unsicherem Ausgang für die Weltwirtschaften.

Aus: El pais, 30. November 2007. Übersetzung: Maria Luisa Rodrígues Tapia