von Ulrike Köpp
Sehr geehrter Herr Professor, das Magazin Focus machte Sie als einen der führenden Spezialisten für Lungenkrebs in Deutschland namhaft. Ich frage mich, wie solche Topplisten wohl zustande kommen. Und ob Sie sich erinnern an den Mann, der im Frühherbst 2006 zu Ihnen um Rat kam, ob er mit seinen fast 77 Jahren sich ein zweites Mal am Krebs operieren lassen solle? Ich werde nicht vergessen, wie der Todkranke verzweifelt nach einem Zipfel Hoffnung suchte, den Sie ihm gegen mäßiges Honorar zu fassen gaben. Ich sah, wie diese Hoffnung sich in seinem Körper ausbreitete und ihn kurz noch einmal aufrecht gehen ließ. Interessiert Sie, wie es Herrn P. ergangen ist? Ich jedenfalls werde mich jetzt wohl immer dann, wenn der Herbst das Laub der Bäume so schön färbt, an das Martyrium des Mannes erinnern.
Im Frühjahr 2005 hatte sich Herr P. in der Thoraxchirurgie in Berlin-Buch einer ersten Krebsoperation unterzogen. Ein gutes Jahr darauf aber war der Krebs wieder da, besser: Er hatte sich wieder sehen lassen. Denn die Tatsache, daß er zurückgekommen, bedeutete ja, daß er nicht wirklich weggewesen. Daß es also doch nicht gelungen war, den Krebs aus dem Körper herauszuschneiden. Denn das kann noch jeder Laie im Pschyrembel nachlesen: Ein Lungenkarzinom ist zu 80 Prozent rezidiv, die Chance, diesen Krebs zu überleben, eher gering. Man stelle sich doch auch vor, wie die krebskranke Lunge den Sauerstoff ans Blut gibt, und das durchströmt den ganzen Körper.
Herr P. zweifelte am Sinn einer neuerlichen Operation. Die Erinnerung an die unweigerlich kommenden Torturen war ihm noch nahe. Er suchte Rat und ließ sich überreden. Ja, er habe sich überreden lassen zur Operation, wie er dann seiner Hausärztin sagte. Und allein, daß dieser so ungemein eigensinnige Mann sich hatte zu etwas überreden lassen, war eine Demütigung für ihn. Nur eine von den Demütigungen, die er in dem halben Jahr seines Sterbens ertragen mußte.
Mag sein, in einer von Krebs bedrohten, bösen Lage kann es keinen guten Rat mehr geben. Ich jedenfalls habe zusehen müssen, wie ein Mensch in existentieller Not solange nach Rat sucht, bis er den findet, der ihm schließlich Hoffnung macht. Und wenn es der falsche Ratgeber ist. Ich war ohnmächtig. Ich habe meinem Freund vergeblich zugeredet, er solle sich seines Lebens freuen, solange es ihm gut gehe. Und es ging ihm noch gut!
Herr P. suchte den Rat der Ärzte. Er wollte nur Fachleuten vertrauen. Und die freilich vertrauen zuerst und vor allem auf ihre medizinische Kunst. Und das müssen sie auch, das ist ihr Beruf. Das verstehe ich gut, Herr Professor. Ihr Beruf ist das Eingreifen. Aber mich hat doch entsetzt, wie sehr das Handwerk des chirurgischen Eingreifens, wie chirurgischer Ehrgeiz den Blick des Arztes verengen kann.
Ihre Kollegen in Buch also wollten Herrn P. noch einmal operieren. »Aus onkologischer Sicht« war für sie eine neuerliche Operation die »Therapie der Wahl«. Dieser onkologische Blick war es, der mich entsetzt hat. Darf zuvörderst der onkologische Blick des Spezialisten walten auf einen alten Menschen, der so oder so nicht mehr lange zu leben hat? Bedarf der Mensch nicht zuerst des ganzen Blicks und der ganzen menschlichen Zuwendung?
Erst nach dem onkologischen Blick vermerkt der ärztliche Bericht die Skepsis des Patienten gegenüber einer zweiten Operation, um diese mit dem Vorschlag zu einem gewagten komplizierten Schnitt am Lungenflügel zu zerstreuen. Während sich die Metastasen schon längst im Gehirn des Mannes eingenistet hatten, wie ich dann schon bald aus meiner Erfahrung im Umgang mit ihm würde rückschließen müssen.
Aber die Ärzte in Buch hatten ihrem Patienten ja auch nichts versprochen. Ihr Bericht spricht lediglich von der Möglichkeit, daß eine Resektion des Lungenflügels »die Funktion des Tumors einschränken könnte«. Könnte. Und da der Patient noch keine Beschwerden hatte, lautete die therapeutische Alternative denn auch: keine Behandlung. Erst wenn Schmerzen und Atemnot sich einstellten, würde therapeutische Hilfe nötig. Und der letzte Satz zu dieser therapeutischen Alternative befand: »Die Lebensqualität des Patienten würde hierbei weniger beeinträchtig.«
Ich las diesen Bericht erst nach der Operation. Als ein endlos trauriges Sterben längst begonnen hatte und nachdem ich den Mann am Verlöschen und Verdursten gesehen, bevor die Ärzte ihn schließlich auf die Intensivstation zurückholten. Da war aus dem lukrativen Patienten aber ein Kostenfaktor geworden.
Und wie ich meinen Gefährten solange beim Sterben begleitete, nahm ich nur um so wacher die sich gleichenden Geschichten um mich herum wahr. Wie die Geschichte der 85jährigen Frau, die man noch am Brustkrebs operierte; ein halbes Jahr darauf starb auch sie. Seitdem kreise ich immer wieder um die Frage: Ist unsere so gepriesene Hochleistungsmedizin nicht auch zynisch?
Ich las die ärztlichen Berichte wieder und wieder, und mir schien ihre Sprache verräterisch. Das wird Sie vielleicht auch interessieren, Herr Professor. Denn in ihrem Entlassungsbericht berufen sich Ihre Kollegen in Buch auf Ihre »Zweitmeinung«, mit der Sie Herrn P. zum operativen Vorgehen geraten hatten. Danach dann habe er sich »zur geplanten (…) Operation« gestellt. Das klingt wie eine Rechtfertigung. Nachdem die Geschichte des Patienten traurig ausgegangen.
Aber es ist auch das Eingeständnis, ihn zur Operation überredet zu haben: Die Ärzte in Buch planen also eine Operation. Ihren widerstrebenden Patienten schicken sie zum Chefarzt der konkurrierenden – oder kooperierenden? – Klinik am anderen Ende der Stadt. Danach »stellt« er sich dem Vorhaben der Ärzte.
Ja, Herr Professor, Sie hatten Herrn P. die Ängste zerstreut, er würde vielleicht mit Atemgerät im Rollstuhl sitzen. Sie versprachen ihm sogar, er würde wieder im Garten arbeiten. Eines solchen Versprechens aber hätte der Mann nicht mehr bedurft, der auf die Achtzig zuging und auch deswegen seinen Garten längst aufgegeben hatte. Im Maßlosen dieses Versprechens scheint mir das Zynische auf. Denn gerade diese Übertreibung war es, die ihn schließlich noch mal zur Operation ermutigte.
Und so viel scheint auch klar: Die Krankenkasse scheute keine Kosten für eine zweifelhafte Operation. Den Ärzten der Lungenchirurgie in Buch fehlte am Ende der Mut, ihrem Patienten zu sagen, daß er nicht wieder genesen würde. Im Entlassungsbericht empfahlen sie, wegen des Alters des Patienten und seiner »ausgeprägten Komorbiditäten« auf eine Chemotherapie zu verzichten. Aber zum Operieren und Geldverdienen war der Patient noch einmal zu gebrauchen gewesen.
Müssen wir nicht verstehen lernen, daß der Krebs eine Weise ist, in der wir Menschen sterben? Müssen Chirurgen nicht lernen, auch geschehen zu lassen? Lernen, daß auch das Sterben seine Zeit hat?
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