Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 10. Dezember 2007, Heft 25

Zumutungen ohne Ende

von Albrecht Müller

Wir haben eine ernste ökonomische Situation. Die Binnenkonjunktur schwächelt deutlich. Schon im August war beim Vergleich von Juli 2007 zu Juli 2006 festgestellt worden, daß die Einzelhandelsumsätze real um 1,5 Prozent gesunken waren. Das ist alles andere als ein Zeichen von Boom. Jetzt deuten die Daten auf eine Verschärfung hin. Die Sparquote steigt. Würde bei uns eine von Vernunft geleitete Wirtschaftspolitik betrieben, wüßte man, daß man umschalten muß. Nichts davon, und auch die Wissenschaft beharrt auf der Richtigkeit des Kurses.
Zunächst zur Meldung des Statistischen Bundesamtes. »Nach vorläufigen Ergebnissen des Statistischen Bundesamtes«, heißt es da, »setzte der Einzelhandel in Deutschland im September 2007 nominal 1,2 Prozent und real 2,2 Prozent weniger um als im September 2006. Der September 2007 hatte allerdings mit 25 Verkaufstagen einen Verkaufstag weniger als der September 2006. Dieses vorläufige Ergebnis wurde aus Daten von sieben Bundesländern berechnet, in denen circa 76 Prozent des Gesamtumsatzes im deutschen Einzelhandel getätigt werden.«
Das ist kein Wunder: Anders als von Ökonomen und Politikern zu Jahresanfang noch eifrig und gegen jede wirtschaftliche Vernunft behauptet, wirkt sich die Mehrwertsteuererhöhung aus. Sie belastet die Kaufkraft wie auch die Kauflust der Mehrheit der Menschen, deren Einkommen real seit Jahren stagnieren beziehungsweise zurückgehen. Hinzukommen als Ursachen eine Reihe weiterer Faktoren: der Zuwachs von allerlei prekären Arbeitsverhältnissen, von Leiharbeit, Minijobs und überhaupt das Auseinanderdriften der Einkommensverteilung zwischen oben und unten.
Hinzu kommt ebenso die von den Regierenden subventionierte höhere Sparneigung eines Teils der Menschen. Die Förderungen für Riester-Rente, Rürup-Rente und betriebliche Altersvorsorge führen zu höheren Sparquoten, weil jene, die in diese Anlageform gehen beziehungsweise gehen können, Vermögen ja nicht nur umschichten, sondern offenbar zusätzlich sparen. In der Regel sind es Besserverdienende, die etwas auf der hohen Kante haben. Für jeden nachdenkenden Ökonomen, der nicht ideologisch fixiert ist, ist diese Tendenz in der jetzigen Situation kontraproduktiv. Wir können alles andere gebrauchen als eine weitere Schwächung des Konsums und damit eine weitere Stärkung des Sparens.
Dennoch beharren die Ökonomen der Institute auf der Richtigkeit des eingeschlagenen Kurses. Dazu ein – nicht zu fassender – Bericht des Handelsblattes: »Die wieder steigende Bereitschaft der Bundesbürger zum Sparen bedeutet derzeit keine Gefahr für das Wirtschaftswachstum. Obwohl die Bundesbürger mehr Geld beiseite legen, rechnen die Institute mit einer Konsumbelebung im nächsten Jahr – denn insgesamt steht ihnen mehr Einkommen zur Verfügung.
Große Hoffnungen, daß die Sparquote kräftig sinkt, haben die Institutsökonomen aber ohnehin nicht, schon weil sich 2008 nochmals die Förderung der Riester-Rente erhöht. Roland Döhrn, Konjunkturchef des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung, erläutert: ›Den Bürgern wird zu Recht seit Jahren nahegelegt, für das Alter privat vorzusorgen. Dies ist als Beitrag zur Bewältigung der demographischen Probleme auch unverzichtbar. Und falls dies zu einem Anstieg der Sparquote führt, ist dies auch politisch gewollt.‹«
Diese Äußerungen belegen den offensichtlichen Niedergang der ökonomischen Wissenschaft in unserem Land gleich in mehrerer Hinsicht: Offenbar herrscht dort eine permanente Wahrnehmungsschwäche. Denn wer behauptet, es bestehe keine Gefahr für das Wirtschaftswachstum, der nimmt ja nicht einmal wahr, daß die Prognosen dafür selbst von der Bundesregierung gerade zurückgenommen wurden: von 2,4 Prozent für 2008 auf 2,0 Prozent. Was sind zwei Prozent, was sind 2,4 Prozent? Bei gleichzeitigem Anstieg der Arbeitsproduktivität um 1,9 Prozent für 2006 und vermutlich einem Prozent in diesem Jahr bleiben dann nur noch minimale Effekte für den Bedarf neuer Arbeitskräfte. Nur in der Propaganda der Vertreter der Agenda 2010 und der Hartz-Gesetze erscheint die heutige Entwicklung als Boom. Die Propaganda macht blind für die Gefahren, die aus der Schwäche des Konsums folgen.
Eine von wenigen Stimmen der Vernunft zu diesem Thema finden sich zum Glück auch, in der Frankfurter Rundschau: »Verteilt Schecks an die Bürger! Die deutsche Politik muß den Konsum stimulieren. Aktiv. Am besten sofort, bevor Amerika, Finanzkrise, Euro und Ölpreis der Wirtschaft die letzten Wachstumskräfte rauben.« Deutlich intensiver allerdings sind wir dem hellen Meinungs-Wahnsinn ausgesetzt. So verlautet das Manager-Magazin zum Beispiel: »Nach einer repräsentativen Umfrage sprechen sich 43 Prozent der Deutschen für eine private Zwangsvorsorge aus – trotz Riester-Boom. Doch nicht nur deshalb steht für Postbank-Chef Wolfgang Klein fest, die Diskussion um dieses Thema gehört wieder auf die politische Agenda.«
Klein hat nicht nur wenig Ahnung von makroökonomischen Zusammenhängen. Er ist auch beachtlich dreist, denn was er hier verlangt, ist schlicht eine gesetzliche Regelung, die der Finanzindustrie, den Versicherungen, den Banken und Finanzdienstleistern, die Vertriebsarbeit abnehmen soll. Sein Begehren ist jedoch auch aus marktwirtschaftstheoretischer Sicht, man könnte auch sagen: angebotsökonomischer Sicht, höchst fragwürdig. Denn selbst aus ebendieser Sicht wäre es angebracht, darauf zu achten, daß die einzelnen Produktionen und Dienstleistungen möglichst effizient organisiert werden. Nur dann kann man davon sprechen, daß die Produktionsfaktoren einer Volkswirtschaft einander optimal zugeordnet sind.
Wenn ich aber die Privatvorsorge zur Pflicht mache, statt die gesetzliche Rente auszubauen, dann mache ich ein System zur Pflicht, das heute das Fünf- bis Zehnfache dessen an Kosten zum Betrieb und Vertrieb des Produktes Altersvorsorge – über die Kapitaldeckung – verbraucht als die gesetzliche Rente über das sogenannte Umlaufverfahren. Der Betrieb des Umlageverfahrens kostet ungefähr 1,5 Prozent der jährlich gezahlten Rentenbeiträge. Der Betrieb der Riester-Rente kostet mindestens zehn Prozent, andere Privatvorsorgesysteme sind noch teurer. Und ein solch teures Verfahren soll zur Pflicht gemacht werden?
Wirklich eine Zumutung. Da wir aber Zumutungen ständig erdulden müssen, gewöhnen wir uns schon daran.

Weiterlesen: www.nachdenkseiten.de