Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 10. Dezember 2007, Heft 25

Ein Omelett zurückverwandeln

von Uri Avnery, Tel Aviv

Ich wachte durch ein Geräusch aus tiefstem Schlaf auf. Draußen herrschte Aufruhr, der von Minute zu Minute lauter wurde. Es war der Schrei einer aufgeregten Menge. Ein Freudentaumel. Ich steckte meine Nase aus der Tür meines Hotelzimmers in Haifa. Begeisterte Leute erzählten mir, die UN-Vollversammlung habe die Teilung des Landes beschlossen. Ich kehrte in mein Zimmer zurück und schloß die Tür hinter mir. Mir war nicht nach Feiern zumute. Es war der 29. November 1947 – ein Tag, der unser Leben für immer veränderte.
Wie konnte ich mich in diesem historischen Augenblick nur so einsam, entfremdet und vor allem traurig fühlen? Ich war traurig, weil ich das ganze Land liebe – Nablus und Hebron nicht weniger als Tel Aviv und Rosh-Pina. Ich war traurig, weil ich wußte, daß es viel, viel Blutvergießen geben würde.
Ich war 24 Jahre alt. Zwei Jahre zuvor hatte ich mit einigen Freunden eine politische Gruppe gegründet, die im Yishuv (also in der hebräischen Bevölkerung Palästinas) ungeheuren Ärger verursachte. Unsere Ideen, die sehr starke Reaktionen provozierten, wurden als gefährliche Ketzerei betrachtet: Wir, die junge in diesem Land aufgewachsene Generation seien eine neue Nation, gemäß unserer Sprache und Kultur sollten wir die »Hebräische Nation« genannt werden. Der Zionismus habe diese Nation ins Leben gerufen , und damit habe er seine Mission erfüllt. Ab sofort habe der Zionismus keine weitere Rolle zu spielen. Die neue Hebräische Nation sei ein Teil des jüdischen Volkes – wie die australische Nation ein Teil des angelsächsischen Volkes ist, aber ihre eigene Identität, ihre eigenen Interessen und eine eigene Kultur hat. Die Hebräische Nation gehöre zum Land und sei ein natürlicher Verbündeter der arabischen Nationalbewegung, beide Nationalbewegungen wurzelten in diesem Land und seiner Geschichte – von der antiken semitischen Zivilisation bis zur Gegenwart. Die neue Hebräische Nation gehöre nicht zu Europa und dem »Westen«, sondern zum erwachenden Asien und zum semitischen Raum – einem Terminus, den wir erfanden, um uns selbst von dem europäisch-kolonialen Terminus »Naher Osten« zu distanzieren. Die neue Hebräische Nation müsse sich selbst als voll- und gleichwertiger Partner in der Region integrieren.
Mit dieser Weltanschauung lehnten wir natürlich die Teilung ab. Zwei Monate vor der UN-Teilungsresolution – Ende September 1947 – veröffentlichte ich eine Broschüre Krieg oder Frieden im semitischen Raum, in dem ich einen völlig anderen Plan vorschlug: Die hebräische Nationalbewegung und die palästinensisch-arabische Nationalbewegung sollten sich zu einer einzigen Nationalbewegung verbinden und einen gemeinsamen Staat errichten, der sich auf die Liebe zum Land – auf Patriotismus, im wahrsten Sinne des Wortes – gründe.
Wir übersetzten eilig das Wesentliche der Broschüre ins Englische und Arabische, und ich verteilte es an Redaktionen arabischer Zeitungen in Jaffa. Als der schicksalhafte Moment, die erwartete UN-Resolution, kam, wachte ich in diesem kleinen Haifaer Hotel auf. Ich konnte nicht wieder einschlafen. Ich stand auf und schrieb während dieser aufregenden Augenblicke ein Gedicht, der erste Vers lautete wie folgt: Ich schwör dir, Mutterland / an diesem bitteren Tag deiner Demütigung / du wirst dich aus dem Staub erheben / groß und vereinigt. / Die grausame Wunde / wird sich in die Herzen deiner Söhne brennen / bis deine Flaggen, / vom Meer bis zur Wüste flattern werden. Einer aus unserer Gruppe komponierte eine Melodie dazu, und wir sangen das Lied in den folgenden Tagen, während wir Abschied von unseren Träumen nahmen.
Wir kleben große Plakate, die vor einem »semitischen Bruderkrieg« warnten – doch der Krieg hatte schon begonnen. Nachdem die ersten Kugeln abgefeuert worden waren, war die Chance, ein vereinigtes Land zu schaffen, zerbrochen. Kriege schaffen neue Realitäten.
Ich schloß mich der Hagana an. Als Soldat einer Sonderkommandoeinheit, die später Samsons Füchse genannt wurde, erlebte ich den Krieg, wie er wirklich ist: bitter, grausam, unmenschlich. Es war ein ethnischer Krieg. In den ersten Monaten wurde kein Araber hinter unsere Linien gelassen; kein Jude wurde hinter die arabischen Linien gelassen. Beide Seiten begingen Grausamkeiten. Am Anfang des Krieges sahen wir Bilder von Köpfen unserer Kameraden, die auf Pfählen in der Altstadt Jerusalems herumgetragen wurden. Wir sahen das Massaker, das die Irgun und die Sterngruppe in Deir Yassin begangen hatte. Wir wußten, wenn wir gefangengenommen werden, werden wir umgebracht, und die arabischen Kämpfer konnten dasselbe Schicksal erwarten.
Je länger sich der Krieg hinzog, um so überzeugter wurde ich von der Realität eines palästinensischen Volkes, mit dem wir nach Kriegsende würden Frieden schließen müssen, und daß der Frieden sich auf der Partnerschaft der beiden Völker gründen müsse. Während der Krieg weiterging, drückte ich diese Ansichten in einer Reihe Artikel aus, die damals in Haaretz veröffentlicht wurden. Unmittelbar nachdem die Kämpfe beendet waren, und ich – noch in Uniform – mich von meinen Verletzungen erholte, begann ich, mich mit zwei jungen Arabern zu treffen (die später beide in die Knesset gewählt wurden), um einen Weg für diesen Plan vorzubereiten. Ich hätte mir nicht vorstellen können, daß diese Bemühungen auch sechzig Jahre später noch nicht abgeschlossen sein würden.
In unseren Tagen kommt hier und dort die Idee wieder auf, das Omelett in Eier zurückzuverwandeln, den Staat Israel und den werdenden Staat Palästina aufzulösen und einen einzigen Staat zu errichten – so wie wir damals sangen: »vom Meer bis zur Wüste«.
Das ist der Versuch, eine Idee zum Leben zu erwecken, die unwiderruflich überholt ist. Ich bin kein nostalgischer Typ. Ich schaue auf die Ideen meiner Jugend und versuche zu analysieren, was überholt und was geblieben ist. Der Traum des Zusammenlebens in einem Staat ist ausgeträumt und wird nicht wieder zum Leben erwachen. Aber ich hege keine Zweifel, daß, wenn ein palästinensischer Staat entstanden sein wird, beide Staaten Wege finden werden, um in enger Partnerschaft zusammenzuleben. Die Mauern werden nieder- und Zäune abgerissen, die Grenze wird geöffnet, und die Realität des gemeinsamen Landes wird alle Hindernisse überwinden. Die Flaggen des Landes – die beiden Flaggen der beiden Staaten – werden tatsächlich nebeneinander flattern.
Die UN-Resolution vom 29. November 1947 war eine der intelligentesten in den Annalen der Organisation. Als einer, der sie damals energisch ablehnte, erkenne ich heute ihre Weisheit.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, Christoph Glanz, redaktionell gekürzt