Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 10. Dezember 2007, Heft 25

Ein Erzähler schlechthin

von Günter Agde

Drei neue Prosatexte hat Günther Rücker in diesem Jahr dem erbarmungslosen Älterwerden buchstäblich abgetrotzt – man hatte schon das endgültige Verstummen befürchtet, seit der mittlerweile 82jährige ins beschauliche Meiningen verzogen war: drei Lebenserzählungen vor der Folie des vorigen Jahrhunderts und mit allen, wirklich allen seinen Verwerfungen, Widersprüchen, Irrtümern und – ja, auch seinen Schönheiten. Schon immer gelang es diesem bedeutenden Dichter, anderer Leben so zu erzählen, daß in den Wendungen und Windungen von Lebenswegen die wirklichen Fragen menschlicher Existenz in ihrer Jahrhundertdimension durchschimmerten. Und spannend war das allemal. Und ein Lesegenuß sowieso.
Auch Rückers Hörspiele, die zu den prägenden Stücken dieses Genres in der deutschen Literatur gehören und immer auch in den Druckfassungen ihren außerordentlichen Wert erwiesen, waren im Grunde ja stets Lebensgeschichten, oft eigentlich Monologe, nur eben nach den gestalterischen Möglichkeiten des Radios »aufgelöst«.
Wer sich auf Rückers Volkserzählerton einlassen kann, wird reich entgolten. Da erzählt jemand – nur ganz leicht ironisch eingefärbt – mit Anklängen an das Idiom des behaglichen, listigen Böhmisch-Deutschen, das unverhofft aufgebrochen wird durch knackende, harte Wirklichkeiten. Die einfache Wortwahl und der genau konstruierte Satzbau bleiben kunstvoll, jeder verbale Schnörkel ist absichtlich gesetzt und von tieferer Bedeutung. Dies alles ist mit Genuß zu erraten oder zu erahnen, auf jeden Fall jedoch durchzuschmecken. Ein Lesevergnügen mit Anspruch und voller Gewinn.
Der Sache nach schreibt Rücker »nur« die Biographien einzelner Leute auf, einfacher, »kleiner« Leute aus dem Volk, abseits von Aristokratie, Militär oder höheren Beamten.
Er berichtet deren Lebensstationen über die Jahre hinweg und notiert Begegnungen, Trennungen, Reisen, Lieben und Liebeleien, Kindersorgen, Todesfälle, Krankheiten. Unmöglich der Versuch, sie referieren zu wollen: Man muß sie lesen, Satz für Satz. Dabei bleibt unerheblich, ob Rücker Erfundenes zuweilen in seine Geschichten einflicht oder ob er »alles« so erfahren hat, wie es ihm berichtet wurde und er es aufschrieb. Daß da trotzdem vielerlei aus seinem eigenen Leben einfloß, wird niemanden verwundern. Allein die Stimmungen, Düfte, Beleuchtungen, Farben und Blickwinkel, die die so unverwechselbare Atmosphäre seiner Geschichten prägen, sind ohne Rückers eigenes Erleben und eigenes Erinnern nicht denkbar. (Hier liegt auch – nebenbei bemerkt – die wirkliche Wurzel für Rückers Filmregiearbeiten, vor allem Die besten Jahre, 1964, Die Verlobte, 1979, zusammen mit Günter Reisch). Rückers Blick auf die Leute aus dem sogenannten einfachen Volk bleibt unbestechlich, gutmütig, überzeugt von der »Kraft der Schwachen«, wie Anna Seghers es nannte, voller Hoffnung.
In jeder Geschichte und in jeder ihrer einzelnen Etappen zeichnet sich mehr durch als nur ein dürrer Fakt, eine zeithistorische Wendung, ein unerwarteter Umstand oder Force majeur, die er dennoch alle festhält. In Eine böhmische Geschichte schlängelt er die Menschwerdung eines Mannes einfachster Herkunft durch Krieg, Gefangenschaft, Elend, Krankheit und Hunger hin in denjenigen deutschen Staat, in dem die menschenbildende Begabung des Mannes aufblühen kann und unmittelbar zum Gemeinwohl beiträgt. (Zum ersten Mal in seinem Werk thematisiert Rücker hier einen besonderen Abschnitt seines eigenen Schicksals: die schmerzvolle Austreibung deutscher Antifaschistischen aus der Tschechoslowakei nach 1945.) Allein die Beschreibung, wie die Buchstabierung des Familiennamens des Mannes durch politische Regimes modifiziert und angepaßt wird, ist ein Kabinettstück Rückerscher Prosa, nein: Erzähl- und Verdichtungskunst.
Das Grandhotel »Silberner Adler« breitet eine Besitztums-Rangelei mit Haben und Nichthaben, mit Flucht und Ankunft und Verschwinden aus, zentriert um ein pompöses, altertümliches Gebäude. Besonders berührt wird man wohl von Erste Liebe sein, dem kürzesten Text des Bändchens, in dem Alters-Zärtlichkeit, Wehmut und Weisheit eines gelebten Lebens zusammenfließen und in dem Rückers Ich dem Leser ohne Hülle und wenig geschützt entgegentritt.
Diesen drei neuen Originaltexten sind Nachdrucke dreier Texte von sehr entlegenen Orten beigefügt: Geben Sie mir die Ehre und trinken Sie ein Glas Tee mit mir, 1975 als Hörspiel mit dem unvergleichlichen Wolfgang Heinz produziert, Es lebten einst zwei Brüder, 1986 und Vorfall am Elisabethbrunnen, 1993. Damit verbindet sich Rückers Erzählkunst des Alters glücklich mit der aus früheren Jahren.
Es lebten einst zwei Brüder beruht auf einem wahren Vorfall: Der Bruder des antifaschistischen Widerstandskämpfers Albert Hößler klingelte eines Tags bei Rücker, der in der Berliner Straße wohnte, die nach ihm benannt ist, und erzählte ihm seine Geschichte als Überlebender, der so anders, nämlich opportuner, gelebt hatte als der tapfere Bruder und den die DDR nun als Staffelaufnehmer des Bruders vorstellte und als Festredner durch die Schulen reichte, verquere Heroisierung der eigenen, eher verdeckten Art.
So sehr es richtig und gut war, verborgene, lesenswerte Texte Rückers wiederaufzuspüren, um so weniger ist zu verstehen, weshalb Um über die siebziger Jahre zu sprechen nicht aufgenommen wurde, ein wortgewaltig-kompakter Brief Rückers an den seinerzeitigen DDR-Filmverbandssekretär Hermann Herlinghaus und nun wirklich sehr im Entlegenen, in einer DEFA-betriebsinternen Schriftenreihe, 1980 erschienen.
Gewiß, kein Prosastück der sonstigen Rückerschen Art, jedoch ein wichtiges Selbstverständigungszeugnis und politisches Dokument sui generis, das Position und Stimmung vieler DDR-Künstler in jenen Jahren, ihre Hoffnungen, Beobachtungen und Leerstellen auf enorm treffende Weise spiegelte und die beginnende Stagnation in der DDR in ihren ersten Symptomen bezeichnete. Ein bedeutendes, völlig verschüttetes Dokument.
Unbedingt anzumerken bleibt ein Dank an Ina Schwaen, die Rücker die ersten frischen Seiten der Geschichten entriß, als sie ihn mit ihrem Mann Kurt Schwaen, dem 98jährigen Komponisten und langjährigem Freund Rückers, sommers in Meiningen traf. Brechts Zöllner: Sie hat sie ihm abverlangt! Dieses Blätter-Wegreißen bildete die Initialzündung für das Buch, denn Ina Schwaen und Rückers Frau Anke drängelten Rücker dann nach weiteren Texten, eben jenen drei Manuskripten, die den kostbaren Kern des Buches nun ausmachen.
Das Beiwerk des Buches, zusätzlich zu Rückers Prosa, stört nicht, wirkt aber überflüssig. Ein Glossar jedoch drückt die Texte Rückers in die Sachbuch-Ecke. (Auch ein Joseph Roth braucht keine Fußnoten!)
Wer von Günther Rücker Lebensgeschichten eines Jahrhunderts erzählt bekommt, erlebt seltenen Genuß und Vergnügen. Neues von ihm lesen kann und muß man nun selbst.

Günther Rücker: Erste Liebe und anderes, Edition Schwarzdruck Berlin, 148 Seiten, 15 Euro