Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 24. Dezember 2007, Heft 26

Ausstiege

von Ove Lieh

2007 war das Jahr der Ausstiege. Die Lokführer stiegen aus ihren Loks, Rußland aus diversen Abrüstungsverträgen, der Kosovo vielleicht noch aus Serbien, Oswald Metzger aus der Grünen Partei, Franz Müntefering aus seinen politischen Ämtern, die Telekom aus dem Sponsoring für den Radsport, Guido Kunze bei seinem Rekordversuch auf dem Fahrrad in Australien wegen eines Geschwürs am Hintern aus dem Sattel – ein ganz schlechtes Beispiel, weil es, wenn jeder, der sich den Arsch wund gesessen hat, seinen Job hinwürfe, zu sehr leeren Ämtern führen könnte –, und als positives Beispiel stieg Jan Ullrich aus dem aktiven Profiradsport aus.
Wie aktiv seine Teilnahme an dieser Sportart war, wird angesichts seiner körperlichen Verfassung am Ende jedes Winters sicher immer strittig bleiben; daß er aber angesichts seines knutähnlichen Wesens (dick, tapsig, dichtes Winterfell und völlige Abhängigkeit von seinen Betreuern) einer der beliebtesten Vertreter der Siegertypen in diesem sogenannten Saustall des Sports war, steht außer Zweifel. Daran können auch die Medien nichts ändern, die solche Lügenmärchen verbreiten wie das vom sogenannten sauberen Sport, den »wir« angeblich brauchen.
Wozu? Damit es in unserem Gemeinwesen, diesem Dreckstall voller Lügen, Affären, Korruption, Betrug, Geldgier, Egoismus und Skrupellosigkeit wenigstens einen »sauberen« Bereich gibt? Jan Ullrich übrigens hatte seit 1999 einen Exklusivvertrag mit der »sauberen« ARD, der ihm Gelder dafür garantierte, daß er in ARD-Sendungen auftrat. Zuletzt waren das 195000 Euro pro Jahr, die noch durch Prämien aufzustocken waren.
Als Ulle 2002 wegen der Einnahme unerlaubter Mittel gesperrt wurde, kündigte man diesen Vertrag, aber schon am 1. Januar 2003 wurde er erneuert. Die Begründung, die Jan Ullrich für seine Blutwerte hatte, war aber auch zu überzeugend: »Das waren nur zwei Tabletten, wo mir bestätigt wurde, daß das nichts ist und daß das mir hilft und daß das eigentlich harmloses Zeug ist.« Das hat man ihm noch geglaubt, man konnte halt Quote machen mit ihm; aber wenn er heute sagt, daß er niemanden betrogen hat, fragt nicht einmal mehr ein Journalist, was er damit meint.
Ich jedenfalls bin schon froh, daß er uns nicht mit Ausreden kommt, wie sie von anderen Kollegen angeboten werden. Der US-Sprinter Mitchell erzählte zum Beispiel angesichts erhöhter Testosteronwerte, er habe in der Nacht zuvor nach reichlich Biergenuß vier Mal Sex mit seiner Frau gehabt. Das hätte ja nun Ulle keiner abgenommen. Aber darum geht es auch gar nicht, sondern darum, was die Medien, insbesondere die ARD behaupten, was wir sehen wollen. Sauberen Sport? Quatsch! Wir wollen Blut sehen, rauchende Trümmer und sterbende Athleten. Sie wissen das. Deshalb präsentieren sie uns doch Artur Abraham, der mit doppelt gebrochenem Unterkiefer weiterboxte, im Nachmittagsprogramm (MDR) als Helden. Sie würden sonst nicht in Superlativen schwelgen, wenn »Wahnsinnsrekorde« aufgestellt werden, bei deren Kommentierung Reporter regelmäßig fast überschnappen. Wir, und damit meine ich uns, wollen Radfahrer sehen, die steile Berge in einem solchen Tempo hochfahren, daß die Motorräder kaum noch mitkommen, wir wollen, daß sie Spitznamen tragen wie Der Kannibale, es ist uns nicht nur egal, daß sie ihr Leben durch Doping riskieren, es erhöht sogar die Aufmerksamkeit, wenn ab und an einer »final aussteigt«.
Egal welche Ausstiege uns noch bevorstehen, der aus der medialen Heuchelei wird nicht dabei sein.