Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 12. November 2007, Heft 23

Kurt Schwaen

von Peter Gugisch

Als Kurt Schwaen am 21. Juni 1909 in der damals preußischen Stadt Kattowitz geboren wurde, schien die Welt noch in Ordnung zu sein. Wir sind Kaiser! verkündeten die Deutschen. Die Wirtschaft prosperierte. Im selben Jahr erhielt Wilhelm Ostwald den Nobelpreis für Chemie.
1919, als Kurt zehn Jahre alt wurde, hatte Deutschland einen furchtbaren Krieg geführt und verloren. Der Kaiser war gestürzt. Aus Kattowitz war Katowice geworden: Die alte Welt war in Unordnung. Eine neue war gefragt. Am 1. Januar 1919 wurde in Berlin die Kommunistische Partei Deutschlands gegründet.
1939, nur zwanzig Jahre später in diesem eng gestrickten Jahrhundert, waren die Lehren des ersten großen Krieges der weißen Männer vergessen. Aus Katowice wurde wieder Kattowitz. Aus Europa wurde erst ein Schlachtfeld, dann ein Trümmerfeld, dann ein unendliches Leichenfeld. Aber Geschichte bleibt nicht stehen. Noch einmal zehn Jahre später, 1949, als Kurt Schwaen eben vierzig Jahre alt geworden war, gingen aus dem verwüsteten Nachkriegsdeutschland zwei Staaten hervor: am 7. September die Bundesrepublik Deutschland; am 7. Oktober die Deutsche Demokratische Republik. Über die nun folgenden vierzig Jahre, die zweiten vierzig Jahre im Leben des Kurt Schwaen, ist das Urteil der Geschichte noch nicht gesprochen. Daß der ostdeutsche Staat, die junge DDR, schon im ersten Jahr ihres Bestehens, am 6. Juli 1950, mit Polen den Vertrag über die Oder-Neiße-Friedensgrenze abschloß, aus dem auch hervorgeht, daß Katowice nun für immer Katowice bleiben wird, wird seinen Platz in den Geschichtsbüchern behaupten.
1999, als das Jahrhundert zum Abschied rüstete, ließ es der neunzigjährige Kurt Schwaen an sich vorbeiziehen. Ich komme später nach …, versprach er. Nun hat er sein Versprechen eingelöst.
Daß ein Mensch sehr lange lebt und durch verschiedene Zeiten geht, ist noch kein Verdienst. Kurt Schwaen hat fünf gesellschaftliche Ordnungen durchlebt. Als er fünfzig wurde, bekam er den Nationalpreis, mit neunzig erhielt er das Bundesverdienstkreuz. Vielleicht hätte ihn jemand zu seinem Hundersten als Ehrenbürger der Stadt Berlin vorgeschlagen. Diese Verlegenheit bleibt dem Regierenden Bürgermeister erspart.
Erinnernswert ist, wie sich Kurt Schwaen als politisch denkender und handelnder Zeitgenosse in die Kämpfe seines Jahrhunderts eingebracht hat. Er hat sie nicht nur miterlebt; er hat sie – im Rahmen dessen, was ein einzelner vermag – von früh an mitgestaltet. Schon als Student in der Weimarer Republik war er der Arbeiterbewegung verbunden, und 1932, im Jahr vor Hitlers Machtübernahme, wurde er Mitglied der KPD. Die Quittung für diese Entscheidung war eine dreijährige Zuchthausstrafe und später die Einberufung in das berüchtigte Strafbataillon 999. Ich habe nie gehört, daß Schwaen über die Gefahren, die Entbehrungen, die Entwürdigungen, die ihm in diesen Jahren widerfahren sind, geklagt hätte. Ich entsinne mich nur, wie er einmal bedauert hat, daß ihm Hitler zehn Jahre seiner musikalischen Entwicklung genommen hatte.
Als der Krieg zu Ende war und der antifaschistische Musiker Schwaen endlich gebraucht wurde, warteten auf ihn zuerst organisatorische, pädagogische, musik-theoretische und publizistische Aufgaben, die dem schöpferischen Musiker, dem Komponisten Schwaen, den Rang streitig machten. Erst 1953 wurde er freischaffend. Einige Musiktitel dieser Zeit verraten, wie intensiv er sich der Musik verschrieben hatte, die ›gebraucht wurde‹. Auch als freischaffender Komponist blieb Schwaen ein gefragter Mann für öffentliche Ämter. Die Arbeit als Sekretär der Sektion Musik an der Akademie der Künste der DDR gehörte zu seinen letzten, sehr verantwortungsvollen Aufgaben. Daß sie ihm die Zusammenarbeit einerseits mit dem Maler und Grafiker Werner Klemke, andererseits mit dem Schriftsteller und Regisseur Günther Rücker einbrachte, gehörte zu den schönen Nebeneffekten. Schwaen war ein Mann, der ein offenes Ohr für die Nachbarkünste hatte. Er las viel. Er hatte wache Sinne für Malerei, Grafik und Plastik.
Dann kam die »Wende« von 1989, die vielen seiner Kollegen von einem Tag zum anderen die bittere Erfahrung des Nicht-mehr-gebraucht-werdens vermittelte. Schwaen nahm auch diesen Umstand nicht einfach hin. Er organisierte gemeinsam mit seiner Frau Ina öffentliche und halböffentliche Konzerte, er scharte um sich einen Kreis junger Interpreten und: Er schrieb immer neue Werke. Es war, als wollte die Natur ihm die Zeit zulegen, die ihm die Zeitumstände in jungen Jahren genommen hatten.
Sollte ich Schwaen in einem Satz charakterisieren, würde ich dafür zwei etwas altmodische Wörter bemühen. Er war ein nobler Mann, dessen Lauterkeit auch von denen geschätzt wurde, die ihm und seinem Werk fernstanden. Er war ein Mensch, der sich und seinen Überzeugungen in den Peripetien der Zeit stets treu geblieben ist. Alle, die ihn kannten, hat sein Humor gewärmt; seine altersweise Ironie tat gut.