Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 15. Oktober 2007, Heft 21

Zwei Ritter und ein Drachen

von Uri Avnery, Tel Aviv

Das Buch der beiden amerikanischen Professoren John Mearsheimer und Stephen Walt Die Israel-Lobby und die US-Außenpolitik ist kein streitsüchtiges Buch. Im Gegenteil – sein Stil ist zurückhaltend und sachlich. Die Autoren geben sich große Mühe, nicht einen einzigen negativen Kommentar über die Legitimität der Lobby zu äußern. Statt dessen betonen sie bei jeder Gelegenheit ihre Unterstützung für die Existenz und Sicherheit Israels. Sie lassen die Fakten für sich selbst sprechen.
Die Autoren befassen sich mit einem Thema, das in den USA ein absolutes Tabu darstellt – mit einem Thema, das keiner, der noch ganz bei Trost ist, auch nur erwähnt: den immensen Einfluß der Pro-Israel-Lobby auf die amerikanische Außenpolitik. In einer erbarmungslos systematischen Weise analysiert das Buch die Lobby, nimmt sie auseinander, beschreibt ihren Modus operandi, enthüllt ihre finanziellen Quellen und deckt ihre Beziehungen zum Weißen Haus, den beiden Häusern des Kongresses, zu den Führern der beiden größeren Parteien und zu führenden Medienleuten auf.
Die Autoren stellen die Legitimität der Lobby nicht in Frage. Im Gegenteil, sie zeigen, daß Hunderte von Lobbys dieser Art eine wesentliche Rolle im amerikanischen demokratischen System spielen. Die Waffenlobby und die medizinische Lobby sind zum Beispiel auch sehr mächtige politische Kräfte. Aber die Pro-Israel-Lobby ist überproportional angewachsen, ihre politische Macht ist ohnegleichen. Sie kann im Kongreß und in den Medien alle Kritik an Israel zum Schweigen bringen und den politischen Niedergang von jedem veranlassen, der es wagt, das Tabu zu brechen; sowie jede Handlung unterbinden, die nicht mit der israelischen Regierung konform geht.
Im zweiten Teil zeigt das Buch, wie die Lobby ihre gewaltige Macht in die Praxis umsetzt: wie sie jeden Druck auf Israel, mit den Palästinensern Frieden zu machen, verhindert; wie sie die USA in die Invasion in den Irak getrieben hat, wie sie jetzt zu Kriegen mit dem Iran und Syrien antreibt; wie sie die israelische Führung im letzten Libanonkrieg unterstützte und Aufrufe für eine Feuerpause blockierte.
In den späten fünfziger Jahren besuchte ich die USA das erste Mal. Eine bedeutende Radiostation in New York lud mich zu einem Interview ein. Man warnte mich: »Sie können sehr wohl den Präsidenten (Dwight Eisenhower) und den Außenminister (John Foster Dulles) nach Herzenslust kritisieren, aber, bitte, keinen israelischen Führer!« Im letzten Augenblick wurde das Interview ganz gestrichen, und der irakische Botschafter wurde an meiner Statt eingeladen. Anscheinend war Kritik passabel, wenn sie von einem Araber kam, aber keineswegs, wenn sie von einem Israeli stammte.
1968 veröffentliche ein amerikanischer Verlag ein Buch von mir: Israel ohne Zionisten. Es wurde später in acht Sprachen übersetzt. Das Buch beschrieb den israelisch-arabischen Konflikt in einer völlig anderen Weise als sonst: Es schlug die Errichtung eines palästinensischen Staates neben Israel vor – damals eine revolutionäre Idee. In den amerikanischen Medien kam keine einzige Besprechung. Ich suchte in einem der größten Buchläden New Yorks nach dem Buch und fand es nicht. Als ich einen Verkäufer fragte, fand er ein Exemplar unter einem Stapel von Büchern und legte es oben drauf. Nach einer halben Stunde war es wieder versteckt.
Das Buch der beiden Professoren, die die israelische Regierung aus einem anderen Gesichtswinkel kritisieren, kann nicht mehr begraben werden. Das Buch gründet sich auf einem Aufsatz der beiden, der im vergangenen Jahr in einer englischen Zeitschrift erschien, weil kein amerikanisches Blatt gewagt hatte, ihn zu publizieren. Nun hat ein amerikanischer Verlag das Buch veröffentlicht. Das ist ein Anzeichen dafür, daß sich etwas tut. Die Situation hat sich nicht verändert; aber es scheint so, als es ob nun möglich ist, über diese Fragen zu reden. Alles hängt vom richtigen Zeitpunkt ab – und nun scheint die Zeit für solch ein Buch, das viele gute Leute in Amerika schockieren wird, reif zu sein.
Die beiden Professoren werden natürlich des Antisemitismus, des Rassismus und des Hasses auf Israel angeklagt. Haß auf Israel? Es ist die Lobby selbst, die einen großen Teil Israels haßt. Während der letzten Jahre driftete sie immer weiter nach rechts ab. Einige seiner Wählergruppen – wie die Neo-Cons, die die USA in den Irak-Krieg trieben – sind offen mit dem rechten Flügel des Likud verbunden und besonders mit Binyamin Netanyahu. Die Milliardäre, die die Lobby finanzieren, sind dieselben Leute, die auch die extreme israelische Rechte finanzieren – und nicht zuletzt die Siedler.
Die kleinen entschlossenen jüdischen Gruppen hingegen, die israelische Friedensgruppen unterstützen, werden unbarmherzig verfolgt. Einige haben längst aufgegeben. Mitglieder von israelischen Friedensgruppen, die nach Amerika gesandt werden, werden boykottiert und als »selbsthassende Juden« verleumdet.
Die politischen Ansichten der beiden Professoren, die am Ende des Buches kurz dargestellt werden, stimmen mit dem Standpunkt der israelischen Friedenskräfte überein: die Zwei-Staaten-Lösung; Ende der Besatzung; Grenzen, die auf der Grünen Linie basieren, und eine internationale Unterstützung für ein Friedensabkommen. Wenn das Antisemitismus ist, dann sind wir hier alle Antisemiten.
Der größte Teil der amerikanischen Öffentlichkeit ist jetzt gegen den Irak-Krieg und sieht ihn als Katastrophe an. Diese Mehrheit verbindet diesen Krieg allerdings noch nicht mit den Aktionen der Pro-Israel-Lobby. Keine Zeitung und kein Politiker wagen es, auf solch eine Verbindung hinzudeuten – noch nicht. Aber wenn dieses Tabu erst einmal gebrochen ist, könnten die Folgen für die Juden und für Israel verheerend sein.
Die zentrale These des Buches lautet, daß der Druck der Lobby die USA dazu zwinge, gegen die eigenen Interessen zu handeln – und auf die Dauer auch gegen die wahren Interessen Israels. Ich stimme den Autoren zu, daß die USA gegen ihre eigenen Interessen handeln – und auch gegen die Interessen Israels –; aber die amerikanische Regierung sieht dies nicht.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, redaktionell gekürzt