von Martin Nicklaus
Hans-Ulrich Wehler, Historiker und alter Mann, nennt die DDR »Mörderrepublik«. In seiner Rage übersieht er, daß im Slang der heutigen Jugend dieser Begriff »tolles Land« bedeutet. Soviel zu den emotionalen Amplituden, die jene Diktatur des Proletariats immer noch auslöst, die sich 1989 ihre Bürger in einer gewaltlosen Revolution vom Hals schafften. Daß die anschließend, dem fröhlichen Flötenspiel des nächstbesten Rattenfängers folgend, einem anderen Staat nachrannten, relativiert ein wenig ihre Courage. Die Gruppe Feeling B brach damals spontan in Gesang aus: »Ich such die DDR, und keiner weiß, wo sie ist.« Heute in der Gruppe Rammstein aufgegangen, würden die Bandmitglieder vielerorts fündig. Denn als wollte jemand Honeckers Worte: »Vorwärts immer, rückwärts nimmer« widerlegen, wurden Fragmente der »DDR-Software« in das Bundesrepublik-Programm »hochgeladen«.
Daran wird man nicht zuletzt erinnert, wenn man in der Kaufhalle in der Schlange zur Kasse steht. Schlangen, eigentlich Synonym für den DDR-Alltag, findet man ebenso am Post- und Bahnschalter, vor dem Geldautomaten und in den Großgeschäften, die per Sammelkasse die Konsumenten am kollektiven Erlebnis des Wartens teilhaben lassen.
Vom erfolgreichsten Schlager, den der Rattenfänger beharrlich dudelte, der »Reisefreiheit«, blieb mindestens für die 7,4 Millionen Hartz-IV-Empfänger, was uns Die Skeptiker bereits 1990 mitteilten: »Die Mauer aus Stein ist schon lange gefallen, doch die Mauer aus Geld hält mich noch immer zu Haus«. Was den Hartz-IV-Betroffenen ebenfalls fehlt, ist Vitamin B – Beziehungen, die neuerdings Netzwerk heißen. Weil wir gerade bei Mauern waren: Wie einst stellt sich der Staat Renommierbauten hin, während öffentliche Einrichtungen zerfallen, seien sie Verwaltungen, Krankenhäuser, Sportstätten, Kindergärten, Schulen oder Universitäten. Letztere, obwohl Politiker so viel von mehr Bildung fabulieren. Real liegen die Ausgaben für Bildung deutlich unter OECD-Durchschnitt. Derzeit fehlen 16000 Lehrer, seit 1995 wurden rund anderthalbtausend Professorenstellen abgebaut. Die Weltmarke »Diplomingenieur« wurde auf den Müll geworfen und das Studium per Bachelore DDRgleich verschult.
Eine solche Schere zwischen Theorie und Praxis ist dem Ostdeutschen nicht unbekannt; an der Qualität der Politiker hat sich offensichtlich nichts geändert: Abgehobenheit von der Wirklichkeit, bornierte Selbstherrlichkeit, Entfremdung von der Bevölkerung.
Die Mehrheit der heutigen Parteien erinnert mit ihren Machtwortgebaren und ihrer Aufzugsfunktion für Karrieristen – deren gesellschaftliches Emporkommen vor allem durch Opportunismus und Untertanengeist, gepaart mit kleinkarierter Herrschsucht gelingt – an die SED. Auf diesem Wege wurden die Parteien ununterscheidbar, bilden eine neue Nationale Front. Lassen wir mal Die Linke, in der reichlich von den heute gänzlich ausgeblendeten Werten der DDR stecken, außen vor.
Wahlen gleichen wieder besseren Volkszählungen, bleiben ohne Wirkung auf die Politik. Entscheidungen treffen nicht die Parlamente, sondern kleine Zirkel, die nur nicht mehr Politbüro heißen.
Längst gilt wieder eine dogmatische Ideologie, diesmal die des Marktes, als alleinseligmachend. Mietprofessoren liefern dafür »wissenschaftliche« Begründungen. Sie basieren auf der irrigen Annahme von einem Homo oeconomicus, ein auf eigenen Vorteil fixiertes, rein rationales Wesen, das genauso surreal daherkommt wie der von den Bolschewiki erhoffte Neue Mensch. Kritische Auseinandersetzungen darüber finden in den stromlinienförmigen Hauptmedien kaum statt. Als Zensor dient zumeist die Schere im Kopf des Journalisten, der gefälligst ein für Werbung geeignetes Umfeld zu schaffen hat. Propaganda im Mantel von Fachartikeln liefern Ministerien oder private Organisationen wie INSM und Bertelsmann-Stiftung. Der Unterschied: Einst dröge Agitation wurde durch bunte hirnwaschende Publicity ersetzt.
Dabei widerlegt die Praxis die Theorie vom Markt unter anderem durch kombinatsgleiche Konzerne, deren Verflechtung mit der Politik längst realsozialistische Ausmaße angenommen hat.
Weitere Programmeinspielungen: Jubelpublikum beim Staatsempfang bei gleichzeitiger Aussperrung von Anwohnern; Herrschende in Heiligendamm, die sich wandlitzhaft vor den Untertanen durch einen Zaun schützen, wie er einst Deutschland teilte; Hausdurchsuchungen ohne juristische Grundlage; Geruchsproben; Verhaftung eines kritischen Wissenschaftlers; und demnächst erhält jeder Bürger wie 1972 in der DDR wieder eine Personenkennzahl.
Selbst die Reduzierung der DDR auf den immer wieder neu entdeckten Schießbefehl und die Stasi verblaßt vor Schäubles Traum von einer Staatssicherheit mit Online-Durchsuchungen, Vorratsdatenspeicherung, Sicherheitsverwahrungen, Bundeswehreinsatz im Innern, Passagierflugzeugabschüssen und gezielten Tötungen. Letzteres übrigens ereilte einst Dutschke und Ohnesorg auch ganz ohne rechtliche Grundlage.
Schäubles Katalog mit Überwachungsphantasien bescherte ihm im Internet den Titel Stasi 2.0, den Die Zeit etwas verschämt in Schäuble 2.0 abwandelte. Solche Phantasien durchzusetzen, bedarf es eines Klassenfeindes, der heute Terrorist heißt und islamischen Hintergrund zu haben hat. Kein Wunder, wenn Artikel der Verfassung schlicht ignoriert werden. Genau darauf bezogen sich einst namhafte Intellektuelle und Bürgerrechtler der DDR, als sie am 4. November 1989 zur Großdemonstration auf dem Alexanderplatz einluden.
Eine andere Parallele zur Achtziger-Jahre-DDR: Viele Deutsche verlassen das Land. Den daraus resultierenden Fachkräftemangel hofft man durch Ausländer auszugleichen, wobei diesmal – anders als damals in der DDR – keine Rede von Vietnamesen ist.
Vielleicht hat sich, nach einem Wort von Willy Brandt, daß zusammenwachsen solle, was zusammengehört, alles miteinander kombiniert – die Übel der DDR mit dem Schönsten, was diese Gesellschaft so bietet: überbordende Kriminalität auf den Gebieten Korruption, Kinderpornographie, Drogen, Prostitution, Raub und Gewalt auf offener Straße und in Schulen sowie prügelnden Jugendgangs, Preistreiberei, Ausbeutung, Armut, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Zukunftsangst.
Bei all dem funktioniert, wie EMNID für Die Zeit ermittelte, die Wahrnehmung der meisten Mitbürger, die sich weder in der DDR verblöden ließen noch heute für blöd verkaufen lassen, recht gut. Sie wollen nicht die diktatorische, sondern vielmehr die hellere soziale Seite der DDR und lehnen ab, was die Regierenden von einst und heute veranstalten.
Da dürfen wir gespannt sein, wann wieder eine Großdemonstration mit dem Ruf: »Wir sind das Volk« stattfindet. Auf die Unterstützung namhafter Intellektueller braucht diesmal allerdings niemand zu hoffen, und Bürgerrechtler von einst heißen sehr zu Recht »ehemalige«. Bis es allerdings soweit ist, kann der Historiker Hans-Ulrich Wehler beim Schlangestehen über die Frage nachdenken, ob alle menschlichen Gesellschaften möglicherweise einen inneren Drang Richtung Totalitarismus aufweisen. Vielleicht verläuft ja aus historischer Sicht alles völlig normal.
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