von Peter Richter
Weicheier«, »Warmduscher«, »Sitzpinkler« – das alles sagt Gunnar Hinck zwar nicht, aber vieles klingt, als ob er es so meinte. Der 34jährige Journalist aus dem Westen, den es zu ostdeutschen Zeitungen trieb, um hier Berufserfahrung zu erwerben, beschäftigt sich mit den Eliten in Ostdeutschland im allgemeinen und Warum den Managern der Aufbruch nicht gelingt im besonderen. Er läßt kaum ein gutes Haar an den ostdeutschen Führungskräften. »Es ist eine stille, kaum vernehmbare Elite. Sie ist ohne eigene Sprache. Sie marginalisiert sich selbst und damit den Osten insgesamt. Sie kann keine Orientierung geben, weil sie selbst ohne Orientierung ist. Sie beschränkt sich darauf, die Gegenwart zu verwalten«, heißt es schon zu Beginn; damit ist der Tenor vorgegeben.
Wolfgang Böhmer, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt. Der illusionslose Pragmatismus des unpolitischen DDR-Arztes, der nach siebzig Lebensjahren bekennt: »Wir wissen besser, was nicht geht, als das, was geht.«, löst beim Autor kein tieferes Nachdenken aus, sondern naseweise Ratschläge. Böhmer hat als Junge den Zusammenbruch des Nazireiches erlebt und als erfolgreicher Mediziner das Ende der DDR. Er mißtraut neuer Macht und neuen Mächtigen – und das vor allem deshalb, weil er schnell spürte, wie wenig er selbst in seiner Position in diesem System ausrichten kann. Böhmer zweifelt zutiefst an der Sache, von der er überzeugen soll. In seinem Amt kann er das nicht sagen; er vermittelt es durch den Rückzug auf die kleinen Fortschritte für die Bürger: Straßenlaternen und Fußwege in den Dörfern, Umgehungsstraßen, Fahrradwege, Elbuferpromenaden … Für Hinck rausgeschmissenes Geld.
Gunnar Hinck präsentiert auch Elitäre, die aus dem Westen kamen und im Osten Karriere machten. Der ehemalige Bild-Journalist Wolfgang Kenntemich betrachtet das Sendegebiet des mdr-Fernsehens, für das er als Chefredakteur jetzt die Welt erklärt, durch die Brille seiner weitgehend ungebrochenen Vorurteile über die DDR, ihre Staatlichkeit, ihre Akteure. Er räumt ein, daß er in mancher Hinsicht umdenken mußte, seit er im Osten arbeitet, doch preßt er die neuen Erfahrungen in sein altes Weltbild, deutet die DDR-Geschichte so um, daß sie mit seinen liebgewordenen Anschauungen nicht kollidiert. Ähnlich abgehoben von der Bevölkerung ihrer neuen »Wahlheimat« ist Iris Goerke-Berzau, Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht Naumburg. Sie lebt in einer Art Parallelgesellschaft. Beruflich vermittelt sie das bundesdeutsche Rechtssystem an ihre Neubürger und versucht dabei durchaus um Verständnis für dessen Regeln zu werben. Privat aber zieht sie sich in eine eigene Welt zurück, hält ihre Kinder weitgehend von der ihr noch immer unheimlichen ostdeutschen Wirklichkeit fern – sie wurden von Tagesmüttern betreut und wechselten nach der Grundschule auf eine christliche Privatschule, um das Abitur zu machen. »Ich habe meine Kinder … immer nach westlichen Maßstäben erzogen«, sagt sie; der Osten, mit dem sie vereinigt wurde, macht ihr offenbar Angst.
Niemand im Westen erwartete von den Ostdeutschen Visionen, sondern Anpassung. Exemplarisch für jemanden, der diesen Weg klaglos geht, ist Christine Lieberknecht, einst Pastorin einer kleinen thüringischen Gemeinde, die – wie viele evangelische Pfarrer in der Nachwendezeit – schnell aufstieg, jedoch im Unterschied zu den meisten von ihnen oben blieb. Sie besetzte mehrere Ministerressorts, wurde Landtagspräsidentin und führt jetzt die regierende CDU-Landtagsfraktion. Dem jeweiligen Landesherrn dient sie, wie sie es einst gegenüber einem noch höheren Herrn lernte: ohne persönlichen Ehrgeiz, ohne Aufstiegspläne.
Frau Lieberknecht zieht der Gleichheit und Gerechtigkeit die Freiheit vor, eine Haltung, »die man bundesweit von Wirtschaftsliberalen … kennt«. Eigentlich eine Position, die dem Autor zusagen müßte, aber selbst er findet, daß für den einfachen Thüringer mit seinen existentiellen Problemen ihre »Forderungen nach Mündigkeit und Eigenverantwortung wohlmeinend, aber abstrakt« klingen. Zudem habe sie nie die Umsetzung ihrer Ideen interessiert; ihr genüge es, darüber zu reden.
Vielleicht nicht darin, aber in vielem anderen ähnelt der Thüringer Ex-Pastorin der Brandenburger Ex-Ökologe Matthias Platzeck. Auch er ein einstiger Bürgerrechtler, der sich in kleinen Schritten auf das herrschende System zubewegt hat, bis es ihn gänzlich schluckte. Dabei überwand er die offensichtliche Diskrepanz zwischen den eigenen illusorischen Idealen und der Wirklichkeit mittels einer eifrigen Suche nach »Verbesserungen«, »Optimierungen«, der Entwicklung eines »menschlichen Antlitzes« dieser Gesellschaft, ohne sie je in Frage zu stellen. Platzeck ähnelt mit dieser Strategie den vielen SED-Mitgliedern, die auch stets darauf hofften, die Schattenseiten des Sozialismus überwinden, ihm ein anziehendes Gesicht verleihen zu können.
Gunnar Hinck hat in einem quasi enthaupteten Land nach guten Köpfen gesucht. Er konnte sie nicht finden, und eigentlich weiß er auch, warum: »Es mag eine banale Erkenntnis sein, aber Eliten sind immer auch der Spiegel der Gesellschaft und ihres Zustandes.« Diese Erkenntnis an seinen vierzehn Beispielen konkret und schonungslos durchzubuchstabieren, war ihm aber wohl zu riskant.
Gunnar Hinck: Eliten in Ostdeutschland, Ch. Links Verlag Berlin 2007, 215 Seiten, 16,90 Euro
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