von Heerke Hummel
Ungewöhnliches ereignete sich in den ersten Septembertagen des Jahres 1950 an der Ernst-Thälmann-Oberschule in Falkensee, vor den Toren Westberlins. Ein neuer Schüler erschien zu Beginn des für die 12. Klasse letzten Schuljahres – als einziger – Tag für Tag im Blauhemd der FDJ.
Gut zwei Jahre später berichtete Der Spiegel (28. Januar 1953) über den nun beginnenden Kampf der Schulklasse »gegen ihre kommunistische Vergewaltigung« durch eben diesen neuen Mitschüler. Klaus Garnatz, so hieß der, war laut Spiegel »nach einem kurzen Intermezzo mit der Polizei« (was immer das bedeuten soll) in Berlin-West »in Richtung Sowjetzone verschwunden.« Schon zu den Einheitslistenwahlen am 15. Oktober jenes Jahres erstattete Garnatz Anzeige beim Staatssicherheitsdienst, weil an die Schulwände das Widerstandszeichen F gemalt worden war, wußte der Spiegel-Autor zu berichten und auch, daß der Neunzehnjährige danach eine Klassenkameradin, seinen Klassenlehrer und andere beim SSD angezeigt hatte.
Das und vieles mehr in dem Artikel war aber nur die halbe Wahrheit. Weder Irmgard Marek noch Dr. Kurt Holzbrecher waren vom SSD verhaftet worden, denn Garnatz selber hatte der Schülerin eine Warnung in den Briefkasten gesteckt und so Irmgard Marek animiert, sich sofort in den Westen abzusetzen. Die briefliche (!) Anzeige Dr. Holzbrechers hingegen landete auf »mysteriöse Weise« statt beim SSD auf den Schreibtischen des Westberliner Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen, der, wie es hieß, noch am gleichen Abend über den Rundfunk im Amerikanischen Sektor (RIAS) die Bevölkerung Falkensees vor Garnatz warnen ließ. Den Brief hatten Garnatz oder seine Hintermänner gezielt dorthin lanciert, um Garnatz zu decken. Denn der trieb ein doppeltes Spiel. Er wollte niemanden in die Fänge der Staatssicherheit der DDR treiben, sondern Menschen zur Flucht in den Westen bewegen.
Klaus Garnatz ging, da er mit meiner Schwester befreundet war, zu dieser Zeit in unserer Familie ein und aus. Und als damals Elfjähriger war ich oftmals – wenn auch mit einem »irgendwie unguten Gefühl« – dabei, wenn er mit bösen Streichen seine Nachbarschaft terrorisierte, die sich nicht getraute, sich gegen den Roten im Blauhemd, den »Stasi-Mann«, zu wehren. Als in der Nacht vor den schon erwähnten Wahlen bei einem Wahllokal die Flagge vom Mast gerissen wurde, erhielt auch unser Untermieter Bruno Lemke, auf den Garnatz (grundlos) eifersüchtig war, eine Warnung, er stünde im Verdacht, der Täter zu sein und solle darum möglichst rasch verschwinden. Natürlich flüchtete er Hals über Kopf, so absurd ein solcher Verdacht auch gewesen wäre, denn Bruno war Schuster und politisch weder organisiert noch interessiert.
Meine Schwester liebte Garnatz – nicht wegen, sondern trotz seines Doppellebens, von dem sie erst nach und nach erfuhr. Sie hielt ihm seine schwere Kindheit und Jugenderfahrungen (auch in der Hitlerjugend) zugute, hoffte möglicherweise auf seine bessere Einsicht. Als er sie aber in seine Militärspionage für die CIA einbeziehen wollte, entzog sie sich ihm – nicht durch Anzeige bei den Sicherheitsorganen der DDR (Verrat, noch dazu des Freundes, kam für sie nicht infrage), sondern durch die eigene Flucht in den Westen.
Garnatz war außer sich vor Wut und ließ sie auch an unserer Familie aus. In London, wohin sich meine Schwester begeben hatte, wurde ein Entführungsversuch auf offener Straße organisiert, der jedoch scheiterte, weil sich meine Schwester zu wehren wußte. Meine Mutter und ich erfuhren davon durch Hinweise von zwei Seiten aus dem Bekanntenkreis, in dem wir gefragt wurden, ob es stimme, daß meine Schwester in London verschwunden sei – der RIAS hätte eine solche Meldung gebracht. Unsere Nachfragen beim Sender in Berlin-Schöneberg wurden mit der Antwort beschieden, eine solche Meldung sei nie ausgestrahlt worden.
Ob Garnatz tatsächlich dem Staatssicherheitsdienst Informationen zutrug, ist nicht bekannt und darf zumindest bezweifelt werden. Wahrscheinlich sollte es nur so scheinen, um sein Treiben zu decken. Dazu diente auch der Artikel im Spiegel, dessen Formulierungen zwar diesen Eindruck erweckten, aber bei genauerem Lesen nicht belegten.
Nur ein Stasi-Kontakt ist belegt: die von der Behörde schriftlich (mit dem Hinweis auf Nichteingang) beantwortete Anfrage von Garnatz, was eigentlich mit seiner Anzeige gegen Holzbrecher geschehen sei. Mit dieser Anfrage hatte Garnatz mehr als drei Monate gewartet, bis Holzbrecher im sicheren Westen war. Vieles deutet darauf hin, daß Garnatz den Spiegel-Artikel selber verfaßte. Dies war auch die erste Bemerkung meiner Mutter, als Garnatz ihr damals den aufgeschlagenen Spiegel mit gewichtiger Miene zu lesen gegeben hatte.
Mitte der fünfziger Jahre hatte Garnatz noch einmal Kontakt mit der Staatssicherheit der DDR: Er wurde enttarnt, verhaftet und wegen Spionage verurteilt. Nach seiner vorzeitigen Entlassung nach Westberlin in den sechziger Jahren soll er in den Siebzigern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sein. Vorher hatte er Chinesisch gelernt.
Weiterzudenken, empfiehlt sich. Auch was mögliche Entschuldigungen in Richtung Westen betrifft. Denn die Geschichte war immer eine Folge von Ursachen und Wirkungen und keine Einbahnstraße.
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