von Thomas Lukscheider
Zu den Mythen des Neoliberalismus gehört die oft wiederholte, aber nie bewiesene Behauptung, wir hätten in Deutschland zu viel Staat und deshalb so wenig Beschäftigung. Es handelt sich dabei um eines der vielen Mantras, die von gleichgetakteten Medien ungeprüft übernommen werden, um sie dann nimmermüde und tagtäglich nachzubeten. Die Zahlen und Fakten aus anderen Ländern lehren jedoch das genaue Gegenteil: Die wirtschaftlich erfolgreicheren Staaten Europas, wie etwa die skandinavischen Länder, haben einen Beschäftigungsanteil von 25 bis 32 Prozent im öffentlichen Dienst, während Deutschland mit gerade einmal elf Prozent das Schlußlicht aller vergleichbaren Länder bildet.
In Frankreich arbeiten 23 Prozent aller Beschäftigten im öffentlichen Dienst, in Großbritannien neunzehn Prozent, in den USA und Italien immerhin noch sechzehn Prozent (Quelle: APA/OECD, 2007). Wie kommt es, daß Länder wie Schweden oder Dänemark mit dreißig Prozent und mehr Beschäftigten im öffentlichen Dienst wirtschaftlich um so viel erfolgreicher sind als Deutschland? Es müßte doch umgekehrt sein, glaubt man den Kassandrarufen der leidenschaftlichen Liberalisierer.
Neoliberale Politiker und Industrielle in Deutschland sowie ihnen nahestehende Wirtschaftsforscher und Medien können uns zwar die Mär von der zu hohen Staatsquote in die Köpfe hämmern, aber sie können nichts daran ändern, daß die Skandinavier ein um fünfzehn bis zwanzig Prozent höheres Bruttoinlandsprodukt (BIP) haben und es dort nur halb so viele Arbeitslose gibt wie in Deutschland.
Deutsche Totsparpolitiker haben im öffentlichen Dienst zahllose Stellen weggestrichen, auf denen zuvor operativ und sozial hochwertige Arbeit geleistet wurde – im Gesundheitswesen, im Verkehrswesen, an den Schulen, in Kindergärten, bei der Sozialarbeit, in der Kommunikation und bei den Sicherheitskräften. Unangetastet ließen sie alles, was Steuerlabyrinthe, Privilegien, Pfründe und Hierarchieprozesse sowie die zugehörige absurde Bürokratie ernährt. Diese Bereiche wurden sogar noch hochgepäppelt.
So wurden Dutzende von Kliniken privatisiert, aber das Steuerrecht für den Normalbürger nicht vereinfacht. Kindergärten, soziale Einrichtungen und Schulen wurden krankgespart, aber die Genehmigungs- und Steuerlabyrinthe nicht begradigt. Die Überversorgung bei den Pensionen der höheren und vor allem höchsten Beamten wurde nicht zurechtgestutzt, sondern wie ein Tabu behandelt, während öffentlich Angestellte sowie kleine und mittlere Beamte zur Ader gelassen und ihre Abteilungen personell ausgedünnt wurden.
Stellt sich die Frage, warum präzise an der falschen Stelle gespart wurde. Nun, die Antwort ist einfach: Sechzig bis siebzig Prozent aller Abgeordneten entstammen dem höheren und allerhöchsten Beamtentum, und das hat in Deutschland nicht erst seit Heinrich Manns Zeiten weitgehend den Blick für Verhältnismäßigkeit, Fairness und Gerechtigkeit verloren. Hartz IV ist dabei nur der Gipfel des Eisbergs, weniger beachtet bleiben auf der anderen Seite die Privilegien der höher und höchstbezahlten Sektoren des Staates.
Genau das ist in Frankreich, Großbritannien, Italien, in den USA und vor allem in Skandinavien denn doch etwas anders. Nur den leichtgläubigen Deutschen kann offenbar der hirnlose Abbruch dessen, was sie oft mit eigenen Händen und Köpfen im öffentlichen Sektor erschaffen und aufgebaut haben, immer noch als »Modernisierung« des Staates verkauft werden, zuletzt bei der Kabinettsklausur im Schloß Meseberg. Getreu dem (nur leicht abgewandelten) Motto des jüdischen Zeitkritikers Karl Kraus (1874-1936): Zum Abbau der Bürokratie fehlen uns noch weitere leitende Beamte.
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