Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 3. September 2007, Heft 18

Katyn – post mortem

von Andrzej Wajda, Warszawa

Nach vielen Versuchen und langem Nachdenken bin ich mir inzwischen sicher, daß der entstehende Film über Katyn nicht das Ziel verfolgen kann, die volle Wahrheit über dieses Ereignis aufzudecken. Denn sie ist bereits sowohl in historischer als auch in politischer Hinsicht öffentlich gemacht worden. Diese Tatsachen können lediglich den Hintergrund für jene Schicksale abgeben, die allein den Zuschauer im Kino zu bewegen vermögen. Aussagen über unsere Geschichte haben ihren Platz in den Publikationen über die Ereignisse vergangener Zeiten.
Deshalb sehe ich meinen Film als Erzählung über eine Familie, die für immer auseinandergerissen wurde, über Selbsttäuschungen und über die brutale Wahrheit des Verbrechens von Katyn. Kurz gesagt, es ist ein Film über individuelles Leid, das Bilder hervorruft, die stärkere Gefühle bewirken als die historischen Tatsachen.
Der Film offenbart schmerzhaft die grausame Wahrheit, wenngleich seine Helden nicht die hingemordeten Offiziere sind, sondern Frauen, die Tag um Tag, Stunde um Stunde auf deren Heimkehr warten, denen also unmenschliche Ungewißheit auferlegt ist. Die treu sind und felsenfest daran glauben, daß es genüge, die Tür zu öffnen und dem seit langem erwarteten Mann gegenüberzustehen. Die Tragödie Katyns berührt die Lebenden und jene, die damals gelebt haben.
Von der Tragödie im Wald von Katyn und von der Exhumierung durch die Deutschen 1943 trennen uns Jahrzehnte. Ungeachtet der polnischen Forschungen in den neunziger Jahren und trotz der Öffnung der Archive, die nur teilweise erfolgte, wissen wir immer noch zu wenig darüber, wie das Verbrechen von Katyn im April und Mai 1940 geschah, das durch die von Stalin und seinen Genossen im Politbüro der KPdSU (B) in Moskau am 5. März 1940 getroffene Entscheidung ausgelöst wurde.
Es ist nicht verwunderlich, daß unsere Mutter und wir anderen über viele Jahre hinweg davon überzeugt waren, daß der Vater lebe, da auf der Liste der Opfer von Katyn zwar der Familienname Wajda auftauchte, aber der dazugehörige Vornamen Karol war. Die Mutter glaubte bis ans Ende ihrer Tage an die Heimkehr ihres Mannes und meines Vaters, Jakub Wajda, der am Ersten Weltkrieg im 2. Ulanen-Regiment teilgenommen hatte, sodann am Krieg Polens gegen die Bolschewiki, an den Schlesischen Aufständen, schließlich am Septemberfeldzug von 1939, und der mit dem Silbernen Kreuz des Ordens Virtuti Militari ausgezeichnet worden war.
Ich möchte jedoch nicht, daß der Film als meine persönliche Suche nach der Wahrheit und als ewiges Licht auf dem Grab des Hauptmanns Jakub Wajda verstanden wird.
Der Film will vom Leid der vielen Familien erzählen, die vom Drama Katyns betroffen waren. Er berichtet vom Triumph über die Lüge von Katyn, die noch lange über den Tod des Josif Wissarionowitsch Stalin hinaus nachwirkte, der ein halbes Jahrhundert lang seine damaligen Alliierten, die westlichen Verbündeten der UdSSR im Krieg gegen Hitler, gezwungen hatte zu schweigen.
Ich weiß, daß die junge Generation sich bewußt und begeistert von unserer Vergangenheit gelöst hat. In heutige Probleme eingebunden, vergißt sie Namen und Tatsachen, die, ob wir das wollen oder nicht, uns als ein Volk mit seinen Befürchtungen, ja Ängsten, formen und die sich bei jeder politischen Gelegenheit äußern.
Es ist noch nicht lange her, als der Schüler eines Gymnasiums, befragt in einer Fernsehsendung, was er mit dem Datum 17. September verbinde, antwortete, es handele sich wohl um einen kirchlichen Feiertag. Vielleicht trägt unser Film Post mortem dazu bei, daß ein Jugendlicher, nach Katyn befragt, mehr zu antworten weiß, als daß es sich bei Katyn um irgendeine Ortschaft unweit von Smolensk handelt.

Für die Uraufführung des Films »Post mortem«, der nach der Filmerzählung von Andrzej Mularczyk, von einem der heute seltenen großen polnischen Regisseure gedreht wurde (Blättchen 15/2007), ist nicht zufällig der 17. September 2007 gewählt worden, das Datum des Einmarsches sowjetischer Truppen in Polen 1939. Aus dem Polnischen übersetzt von Gerd Kaiser. Der Text wurde erstmals als Einführung zu der erwähnten Filmerzählung veröffentlicht.