Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 17. September 2007, Heft 19

Der verpaßte Nazi-Stopp

von Robert M. W. Kempner

Die NPD wird ihren Weg in die Mitte des Volkes weiter fortsetzen, unbeirrt vom Verbotsgeschrei aus den Reihen der SPD und von weiter links. Die Zahl unserer Anhänger wächst von Tag zu Tag.
Peter Marx, Stellvertretender Parteivorsitzender sowie Generalsekretär der NPD

Während der Jahre von 1928 bis 1930 schwollen die Wählerstimmen für die National Sozialistische Deutsche Arbeiterpartei von 810000 am 20. Mai 1928 auf 6400000 am 14. September 1930 an. In dieser Zeit wurde die illegale und legale Tätigkeit der Nationalsozialisten immer stärker und aggressiver und die öffentliche Ordnung ernsthaft bedroht. Die Besorgnis des für die Sicherheit der Weimarer Demokratie zuständigen Preußischen Innenministeriums wurde immer stärker. Der Innenminister Albert Grzesinski und später Carl Severing erwogen deshalb energische Maßnahmen zur Bekämpfung der NSDAP, der SA und vor allem des »Führers« Adolf Hitler. Die politische Abteilung (Ia) des Polizeipräsidiums Berlin wurde beauftragt, eine eingehende Untersuchung über die zahlreichen strafbaren Handlungen der nationalsozialistischen Funktionäre und die Frage der Legalität der NSDAP als strafbare staatsfeindliche Verbindung im Sinne der §§ 128, 129 des StGB zu untersuchen. Diese Untersuchungen ergaben einwandfrei, daß Hitler selbst, zahlreiche NSDAP-Funktionäre und die NSDAP wegen strafbarer Handlungen verfolgt werden müßten. Es handelte sich dabei um den Verdacht schwerer Verletzungen der Strafbestimmungen gegen hochverräterische Unternehmen, sowie die Förderung und Zugehörigkeit zu einer staatsfeindlichen Verbindung (§129 StGB; § 4 Ziffer 1 des Republikschutzgesetzes und § 86 StGB).
Auf Grund der polizeilichen Untersuchungen, die bereits im Jahre 1929 begonnen hatten, kam 1930 eine Denkschrift von 97 Seiten zustande. In diesem Dokument vom August 1930 wurde der strafbare Charakter der NSDAP sowie die Strafbarkeit ihres Führers Adolf Hitler und seiner Mitarbeiter durch die eigenen Erklärungen von Hitler und maßgebenden Nationalsozialisten in Wort und Schrift überzeugend bewiesen. Der Berliner Polizeivizepräsident Bernhard Weiß, der Regierungsassessor Hans Schoch, der Kriminalkommissar Johannes Stumm – nach dem Kriege Polizeipräsident in Berlin – gehörten zu den verantwortlichen Verfassern. Auf Veranlassung des Staatssekretärs Wilhelm Abegg vom Preußischen Innenministerium wurde ich selbst, damals Justitiar der Polizeiabteilung im Preußischen Innenministerium, bei den Beratungen über die schwierige Rechtslage eingeschaltet. Diesem Umstand verdanke ich auch ein persönliches Exemplar der Denkschrift, das ich nach meiner Auswanderung nach USA mitgenommen habe.
In den USA habe ich es häufig bei meinem Kampfe gegen Hitler benutzt, um meinen Gesprächspartnern klar zu machen, daß der verbrecherische Charakter des Hitlerregimes bereits 1930 einwandfrei feststand. Die notwendigen Konsequenzen waren bedauerlicherweise von der Reichsregierung nicht gezogen worden. Wäre sie den Feststellungen der Preußischen  Regierung damals gefolgt, so wäre Hitler am 30. Januar 1933 nicht Reichskanzler geworden und der Zweite Weltkrieg hätte nicht stattgefunden. Hitler wäre in einem rechtsstaatlichen Kriminalverfahren bereits im Jahre 1931 wegen hochverräterischer Unternehmen, Meineides und Gründung staatsfeindlicher Organisationen, wie der NSDAP, der SA und der SS, verurteilt und sofort als lästiger Ausländer aus dem Deutschen Reich ausgewiesen worden. Den Meineid hatte er in dem sogenannten Ulmer Reichswehrprozeß vor dem Reichsgericht am 14. September 1930 geleistet. Dort hatte er der Wahrheit zuwider behauptet, daß er mit legalen Mitteln zur Macht kommen wolle, – während er und seine Partei ständig Terrorakte verübten.
Das Dokument des Polizeipräsidiums Berlin ging seinerzeit über das Preußische Innenministerium, das Preußische Staatsministerium des Ministerpräsidenten Otto Braun und das Reichsinnenministerium an den Reichskanzler Heinrich Brüning. (…)
Die völlige Fehlbeurteilung der politischen Lage durch die Reichsregierung und der Mangel an Initiative gegenüber der NSDAP läßt sich nachträglich durch die Niederschrift über eine Sitzung der Reichsregierung vom 19. Dezember 1930 beweisen. (…) Das Thema dieser Sitzung war die Frage der Legalität oder Illegalität der NSDAP. (…) Auf Grund dieser Erörterungen gelangte Reichskanzler Heinrich Brüning zu einer Schlußfolgerung, die geschichtlich äußerst verhängnisvoll war. Sie torpedierte die preußischen Schritte zu einer energischen Bekämpfung Hitlers und der NSDAP, die 1930 durchaus erfolgreich hätten sein können. Es heißt in der Niederschrift:
»Der Reichskanzler vertrat die Auffassung, daß das Reichskabinett jetzt noch nicht zu der Frage der Legalität oder Illegalität der NSDAP endgültig Stellung nehmen könne. Auf jeden Fall müsse die Reichsregierung sich davor hüten, dieselben falschen Methoden gegen die Nationalsozialisten anzuwenden, welche in der Vorkriegszeit gehen die Sozialdemokraten angewendet worden seien.«
Die übrigen anwesenden Mitglieder des Reichskabinetts erhoben keine Einwendungen gegen diese grundsätzliche Stellungnahme des Reichskanzlers.
– Mit dieser Haltung im Dezember 1930 wurde das Schicksal der Weimarer Republik besiegelt! – (…)
Die preußischen Sicherheitsbehörden ließen sich durch die ängstliche und defaitistische Haltung Brünings jedoch nicht entmutigen. Seit dem Herbst 1930 war eine Verschärfung des hochverräterischen und terroristischen Kurses der NSDAP sichtbar. (…) Der zunehmenden Aggressivität der NSDAP waren die Sicherheitsbehörden kaum noch gewachsen. Ein energisches Vorgehen der Reichsregierung durch Verbot der NSDAP auf dem Wege einer Notverordnung des Reichspräsidenten wäre zum Schutze der Weimarer Republik notwendig gewesen. Ein vorübergehendes Verbot der SA und SS war nur eine Farce. Einer politischen Selbstpreisgabe kam es gleich, daß die Reichsregierung trotz juristischer Möglichkeiten duldete, daß Adolf Hitler von der damals schon nationalsozialistischen Regierung in Braunschweig im Februar 1932 zum Regierungsrat bei der braunschweigischen Vertretung in Berlin ernannt wurde. Durch diesen Trick wurde Hitler braunschweigischer, und damit deutscher Staatsangehöriger. Dies ermöglichte dem Hochverräter und Terroristen einen quasilegalen Weg zur Reichskanzlerschaft.
Trotz all dieser, geradezu entmutigenden Signale, unternahm der preußische Ministerpräsident Otto Braun am 4. März 1932 nochmals beim Reichskanzler Brüning einen Vorstoß zur Rettung der Weimarer Republik vor einem befürchteten Regime Adolf Hitlers. (…) Eine ausführliche Denkschrift von 236 Seiten bewies die republikfeindliche, staatsgefährdende und dem Strafgesetzbuch zuwiderlaufende Tätigkeit der NSDAP. (…) In Preußen erwartete man mit Spannung eine Antwort auf die energischen Vorstellungen bei der Reichsregierung. Sie kam jedoch niemals. (…)
Vierzig Jahre später fand ich einen schriftlichen Vermerk über die Behandlung der preußischen Denkschrift vom 4.3. 1932 in den Akten der Reichsregierung. (…) Das Rätsel der Nichtbeantwortung des preußischen Antrages mit dem Ziel, die NSDAP zu verbieten, ist ein handschriftlicher Vermerk auf dem Originalbrief von Otto Braun. Der frühere Mitarbeiter Brünings, und seit dem 2. Juni Staatssekretär in der 3 Tage alten Regierung des neues Reichskanzlers Franz von Papen, Erwin Planck, hat vermerkt: Der Herr Reichskanzler Brüning wünschte keine Antwort auf das Schreiben des Ministerpräsidenten Braun vom 4. März 1932. Einen Teil der Anlagen habe er auf Wusch Brünings vernichtet. –

Auszug aus dem Vorwort der 1983 bei Ullstein erschienenen, gleichnamigen Preußischen Denkschrift von 1930. Robert M.W. Kempner wurde 1933 wegen »politischer Unzuverlässigkeit in Tateinheit mit fortgesetztem Judentum« aus dem Staatsdienst entlassen und 1935 verhaftet. Dank internationaler Proteste wurde er wieder freigelassen und floh über Italien in die USA, die er als Stellvertreter des amerikanischen Chefanklägers Robert H. Jackson bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen vertrat. Der Karl Dietz Verlag Berlin bereitet eine Neuauflage der Denkschrift vor.