Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 17. September 2007, Heft 19

Das zerbrochene Rohr

von Uri Avnery

Im Jahr 701 vor Christus belagerte der assyrische König Sanherib Jerusalem. Die Bibel berichtet über die Worte, mit denen sich der assyrische General Rabschakeh an König Hiskia, den König von Juda, wandte: »Siehe, verläßt du dich auf diesen zerbrochenen Rohrstab, auf Ägypten, der jedem, der sich darauf stützt, in die Hand dringen und sie durchbohren wird? So ist der Pharao, der König von Ägypten, für alle, die sich auf ihn verlassen.« Die Schreiber der Bibel waren so sehr von diesem Satz beeindruckt, daß sie ihn zweimal zitierten (2. Könige 18,21 und Jesaja 36,6).
Man muß den historischen Kontext verstehen: Ägypten war damals eine riesige Großmacht. Jahrhundertelang beherrschte es all seine Nachbarn, einschließlich des Gebietes, das heute Syrien, Libanon und Israel einschließt. Die Assyrer auf der andern Seite waren eine aufstrebende neue Macht. Nachdem sie das Königreich Israel, das bedeutendere der beiden hebräischen Königreiche, in Samaria erobert hatten, versuchten sie das winzige Königreich Juda zu besetzen, das sich, was seine Verteidigung betraf, auf das mächtige Ägypten verließ.
Juda hielt durch. Aus nicht überlieferten Gründen brachen die Assyrer ihre Belagerung ab und zogen sich von Jerusalem zurück. Das Königreich Juda blieb danach weitere hundert Jahre intakt – bis die Babylonier, die den Platz der Assyrer einnahmen, es eroberten. Davor hatte es Ägypten nicht mehr bewahren können, denn zu dieser Zeit war es wirklich zu einem »zerbrochenen Rohrstab« geworden.
Die USA sind die modernen Erben des alten Ägyptens. Sie sind pompös, reich und stark, eine kulturelle, wirtschaftliche und militärische Macht: Der König von Amerika beherrscht die Welt wie einst Pharao, der König von Ägypten, die semitische Region beherrschte. Israel betrachtet seine besonderen Beziehungen zu den USA als die wichtigste Garantie für seine nationale Sicherheit. Keine besetzten Gebiete oder keine Waffensysteme können ein Ersatz sein für die Nabelschnur, die Jerusalem mit Washington verbindet.
Diese Beziehungen haben eine ideologische Dimension: Beide Staaten wurden von Einwanderern aus fernen Gegenden gegründet, die ein Land in Besitz nahmen und die einheimische Bevölkerung verdrängten. Beide glaubten, Gott habe sie auserwählt und ihnen das gelobte Land überlassen. Beide schufen zunächst einen Brückenkopf und brachen von ihm aus zu einem historischen Marsch auf, dem nichts zu widerstehen schien – die Amerikaner von »Meer zu Meer«, die Israelis vom Meer zum Jordanfluß.
Diese Beziehungen haben auch eine strategische Dimension: Israel dient den lebenswichtigen amerikanischen Bedürfnissen, um die Herrschaft über das Öl im Nahen Osten zu sichern; Amerika dient den Bemühungen der israelischen Regierung, das Land bis zum Jordan zu beherrschen und den Widerstand der lokalen Bevölkerung zu brechen.
Und diese Beziehungen haben eine politische Dimension: Die USA haben immensen Einfluß auf Jerusalem, und Israel hat einen immensen Einfluß auf Washington. Dieser Einfluß gründet sich auf die etwa eine Million Juden, die vor hundert Jahren in die USA ausgewandert sind. Sie stellen dort eine mächtige Gemeinschaft dar, die mit politisch-wirtschaftlichem Einfluß auf alle Zentren der gesellschaftlichen Macht bewundernswert organisiert ist. Die miteinander kombinierte Macht der jüdisch-zionistischen Lobby und der christlichen Fundamentalisten, die auch die israelische Rechte unterstützt, ist unermeßlich.
Es gibt eine Geschichte über einen israelischen Politiker, der vorschlug, sich den USA als 51. Staat anzuschließen. »Bist du verrückt?«, gab ein Kollege zurück, »wenn wir einfach ein weiterer Bundesstaat wären, dann hätten wir nur zwei Senatoren und ein paar Kongreßleute. Jetzt haben wir mindestens achtzig Senatoren und hunderte von Kongreßleuten.«
Dutzende kleiner Länder in aller Welt glauben, daß der Weg nach Washington über Jerusalem führt. Um sich bei den USA einzuschmeicheln, knüpfen sie erst enge Beziehungen mit Israel, das für sie wie ein Türsteher wirkt, an dem man nicht ohne Bestechung vorbeikommt. Doch dieser Einfluß ist nicht so unbegrenzt, wie einige glauben. Die Jonathan-Pollard-Affäre zeigte, daß all die Macht der Pro-Israel-Lobby nicht ausreichte, um für einen kleinen Spion ein Pardon zu erhalten. Und: Vor kurzem gelang es selbst Israel nicht, den Verkauf von riesigen Mengen von Waffen an Saudiarabien zu verhindern. Wenn die USA Israel eine direkte Order erteilen, dann gehorcht Jerusalem. Zum Beispiel, als Jerusalem sich entschieden hatte, an China ein teures Aufklärungsflugzeug zu verkaufen – den Stolz der israelischen Industrie –, zwang Washington Israel, diesen Deal rückgängig zu machen, was den israelisch-chinesischen Beziehungen schweren Schaden zufügte.
Trotzdem gibt es in Washington und Jerusalem eine tief verwurzelte Überzeugung, daß die beiden Länder in ihren Interessen so eng miteinander verbunden sind, daß sie nicht auseinander gehalten werden können. Was für den einen gut ist, sei auch für den anderen gut.
Nichtsdestoweniger lohnt es sich zuweilen, an die Worte des assyrischen Generals von vor 2708 Jahren zu erinnern. Große Mächte steigen auf und fallen. Nichts bleibt, wie es ist. Das 21. Säkulum wird nicht ein weiteres »amerikanisches Jahrhundert« werden. Man kann einen langsamen, aber stetigen Niedergang des Unilateralismus der USA voraussehen. Europa vereinigt sich, seine wirtschaftliche Macht wächst stetig. Rußland wird nach und nach wieder zur Großmacht, wozu ihm nicht zuletzt seine enormen Öl- und Gasreserven verhelfen. Und besonders wichtig: Die zwei Bevölkerungsgiganten China und Indien erklimmen schnell Sprosse um Sprosse die wirtschaftliche Leiter.
Wahrscheinlich wird sich nichts Dramatisches ereignen; die USA werden nicht plötzlich zusammenbrechen wie 1989/91 die Sowjetunion. Aber ihre Macht wird relativ abnehmen. Derzeit versinken sie in einem irakischen Morast. Aber ein Land wie die USA, das in der Lage war, das schändliche Debakel in Vietnam zu überwinden, wird auch das zu erwartende Fiasko im Irak verwinden.
Aber viele kleine Niederlagen werden sich zu einer großen addieren. Ist es wirklich für Israel gut, mit dem Schicksal der USA auf Leben und Tod verbunden zu sein? Abgesehen von den moralischen Erwägungen: Ist es klug, all seine Eier – alle – in einen Korb zu legen?
Ein Zyniker mag sagen: Warum nicht? Amerika beherrscht die Welt. Es wird dies noch eine Zeitlang können. Falls es eines Tages die Kontrolle verliert, werden wir Lebewohl sagen und uns nach einem neuen Verbündeten umschauen. So haben wir es mit den Briten getan. Nach dem Ersten Weltkrieg halfen wir ihnen, das Mandat über Palästina zu erhalten, und dafür halfen sie uns, die hebräische Gemeinschaft aufzubauen. Schließlich gingen sie weg, und wir blieben. Danach halfen wir Franzosen, und dafür erhielten wir den Atomreaktor in Dimona. Schließlich gingen sie, und der Reaktor blieb. Dies wird »Realpolitik« genannt.
Ich verglich einmal unsere Situation mit der eines Spielers am Roulettisch, der ein unglaubliches Glück hat. Vor ihm wächst der Berg der Jetons. Er könnte im richtigen Augenblick aufhören und seine Jetons in Millionen Dollar umtauschen und danach für immer sorglos und glücklich leben. Aber er kann nicht aufhören. Das Spielfieber läßt ihn nicht los. Also macht er weiter, auch wenn sich sein Glück längst gewendet hat – mit den voraussehbaren Folgen.
Amerika ist weit davon entfernt, ein zerbrochenes Rohr zu sein – vorläufig. Diejenigen die sich auf diesen Stab stützen wollen, können es noch eine Weile tun. Aber es wäre klug von uns, diese Zeit zu nutzen, um uns eine Existenz in der zukünftigen Welt in Frieden abzusichern.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glan, redaktionell gekürzt