von Heerke Hummel
Was uns reizte, ein familiäres Fest mit einer Reise in die Stadt am Bosporus zu krönen, war die Erwartung von Sehenswürdigkeiten einer zweieinhalbtausendjährigen Geschichte, von der auch unser Leben geprägt ist. Denn was wären wir ohne die Griechen und Römer, auf die das ursprüngliche Byzantion – nach dem Gründer Byzas aus Megara auf der griechischen Halbinsel Attika – und spätere Konstantinopel – nach dem römischen Kaiser Konstantin I., der hierher die Hauptstadt seines Reiches verlegte – zurückgeht? Und was wären wir, hätte sich das Vorhaben Kaiser Karls des Großen, der vor 1200 Jahren im heutigen Trier residierte, verwirklichen lassen, der einen seiner Söhne mit der Prinzessin von Byzanz vermählen wollte, um das alte römische Imperium in noch größeren Dimensionen wiedererstehen zu lassen? Hier an der landschaftlich wunderschönen und strategisch wichtigen Grenze zwischen Europa und Asien trieben die Griechen Handel mit den Skyten, schlugen sie sich mit den Persern, setzten 400 v. u. Z. der griechische Geschichtsschreiber Xenophon (erst als Begleiter und dann als Leiter) mit den führerlos gewordenen Resten der Zehntausend-Mann-Armee des Feldherrn Kyros nach Europa über und etwa 700 bis 800 Jahre später die Kreuzzügler nach Asien. Byzantinische Kaiser und türkische Sultane (ab 1453) ließen hier prächtige Gotteshäuser und Paläste errichten. Was wir sahen, erlebten und – uns in die Vergangenheit versetzend – nachempfanden, war mehr, schöner und nachhaltiger, als wir erwartet hatten.
Erhalten aus früher Zeit sind nicht nur zahlreiche Baudenkmäler und – vor allem in den Museen – Zeugnisse hoher Kunst und Kultur. Erhalten und geradezu vertausendfacht hat sich das pulsierende Leben einer heute zwölf Millionen Einwohner zählenden Metropole, die unablässig über ihren Rand quillt, in der bis spät in die Nacht hinein gehämmert, geschweißt, geknüpft, gewirkt, bergauf und bergab transportiert (auf dem Rücken oder auf dreirädrigen Handkarren – wegen der Kosten und wegen der verstopften engen Straßen) und vor allem gehandelt wird. Dies alles funktioniert so ohne Politikerstreit um Ladenöffnungszeiten, ohne Bürokratie. Und wo diese versucht, planerisch wirksam zu werden, etwa bei einer fraglos notwendigen Stadt- und Verkehrsplanung, wird sie nicht selten von den Ereignissen der Wirklichkeit überrannt, indem etwa, wo eine Straße geplant ist, noch bevor deren Bau beginnt, sich Verkehrslage und -aufkommen inzwischen völlig geändert haben – »überholen ohne einzuholen« auf Türkisch.
Und dies alles nach Jahrhunderten und Jahrtausenden, in denen Bauwerke errichtet wurden, die uns angesichts der seinerzeit verfügbaren ökonomischen und technischen Mittel in Erstaunen versetzen müssen. Mitte des 6. Jahrhunderts ließ Kaiser Justinian I. die Hagia Sophia (Göttliche Weisheit) als großartige Basilika, die fast ein Jahrtausend lang das geis geistliche Zentrum des byzantinischen Reiches sein sollte, innerhalb von nur fünf Jahren errichten. Zehntausend Menschen sollen an der Entstehung dieses noch heute zu den größten Kirchenbauten der Welt zählenden Kunstwerkes gearbeitet haben. Unvorstellbar heute das Gewimmel von Steinmetzen, Bauleuten, Malern und Trägern, die innen und außen den Sand aufschütteten und am Ende wieder abtransportierten (denn man baute ohne Gerüste); und nicht zu vergessen das Heer von Köchen und all denen, die mit der Versorgung der Menschenmassen beschäftigt waren. Noch heute ist das von griechischen Architekten, Anthemios aus Tralles und Isidoros aus Milet, entworfene Bauwerk das Wahrzeichen Istanbuls.
Auch in der Kunst der Staatsführung finden sich bei den Osmanen bemerkenswerte Unterschiede etwa zum Kaisertum des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, das an seiner ohnmächtigen Vermittlerrolle zwischen Königen und Fürsten litt und niederging, als Kaiser Franz II. die Reichskrone 1806, nach den napoleonischen Eroberungen, resignierend niederlegte. Von ihnen, den Osmanen, geistern bei uns zu Lande meist nur Schreckensbilder ihrer Grausamkeit umher. Doch im Topkapi Palast, der bis 1839 offizieller Sitz der Sultane war, stößt man auf die Spuren nicht nur eines hochentwickelten Kunstsinns, sondern auch weiser Staatsführung. Der Divan als Versammlungssaal des Staatsrates beispielsweise war nach außen in weiten romanischen Bögen offen, hatte keine verschlossenen Fenster und Türen, damit keine Geheimabsprachen getroffen werden konnten. Die Wahrheit sollte öffentlich sein. Und der Sultan hatte die Möglichkeit, hinter einem vergitterten Fenster den Beratungen ungesehen zuzuhören. Bei den Palastküchen war zu erfahren, daß die Besoldung der Janitscharen mit einem Festessen verbunden war. Ließ die Leibgarde des Sultans die Speisen gelegentlich stehen, so bedeutete dies nicht, daß sie nicht schmeckten, sondern daß man unzufrieden war. Und die Folge waren nicht Strafmaßnahmen, sondern sofortige Verhandlungen. Allerdings vermeldet die Historie auch, daß noch im 19. Jahrhundert Sultan Mahmut II. 30000 aufständische Janitscharen im Hippodrom hinrichten ließ.
Der Harem, der uns Europäern die Phantasie sehr einseitig anregt, diente nicht nur der Wollust der Sultane, sondern hier wurden die Damen des Hofes vielseitig ausgebildet, auch um mit hohen Beamten des Staates verheiratet zu werden, die sich oftmals aus dem Stamm der Janitscharen rekrutierten. Und dieser Stamm selbst wurde ebenfalls bei Hofe herangezogen. Ausgewählte Jünglinge erhielten die erforderliche Ausbildung. Das alles war ein wohlorganisiertes System zur Schaffung eines Staatsapparates, der – aus der Sicht der Sultane – voll und ganz auf das staatliche Gemeinwohl ausgerichtet war und jahrhundertelang der straffen Leitung und Beherrschung eines Weltreiches diente, das das Mittelmeer weitgehend umspannte. Alles, was in diesem Machtapparat geschah, war gewollt und auf das zentrale Ziel orientiert beziehungsweise diesem untergeordnet, nichts dem Zufall überlassen.
Ein Zenit in der Menschheitsgeschichte? Die Frage stellt sich angesichts chaotischer und desaströser Zustände in der bürgerlichen, vom Profitstreben dominierten Konkurrenzgesellschaft von gestern wie von heute. Handlungsunfähigkeit droht, wo sich 27 Regierungschefs selbst über banalste Fragen nicht einigen können, wo alles und jedes zu Kompromissen zerredet wird, die immer nur das Mindeste, nie das Beste sicherstellen. Gewiß, gebranntes Kind scheut das Feuer, sagt der Volksmund. Aber ist denn ein der Vernunft untergeordnetes Gesellschaftssystem nur als Tyrannei von Despoten oder Parteidiktaturen denkbar? Kleingeisterei jedenfalls ist es, das, was derzeit über uns waltet, für das Ende der Geschichte oder die beste aller Ordnungen zu halten. Und alles, was dazu beiträgt, daß in dieser Gesellschaft etwas mehr Vernunft zum Tragen kommt, wäre ein Fortschritt.
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