von Hermann-Peter Eberlein
Eugen Althager ist ein junger Mann aus gutem Hause, Halbjude und katholisch getauft; er hat Nietzsche und Schopenhauer gelesen, Ludwig Klages und die Romantiker, kurz: Er hat den wagnerseligen Geist der Jahre vor 1914 geatmet. Nun aber ist das Familienvermögen dahin, er selbst arbeitslos. Nach einem Berliner Jahr, das ihm die Augen geöffnet hat für die Abgründe von »Kampf und Hunger, … Versoffenheit und Päderastie«, ist er nach Wien zurückgekehrt, wo er in einem schäbigen Zimmer haust und von den Zuwendungen seiner Freundin Agathe und eines entfernten Onkels mehr schlecht als recht existiert. Hier – es ist das Jahr 1933 – setzt Jean Amérys erster Roman ein, der heuer (!) seine Erstauflage erlebt hat.
Es ist die Geschichte eines Abstiegs und zugleich einer intellektuellen Klärung. Ein Künstler- und Liebesroman und eine Zeitanalyse, wie sie schonungsloser und hellsichtiger Mitte der dreißiger Jahre kaum verfaßt werden konnte. Die Machtergreifung in Deutschland und der österreichische Klerofaschismus, die Aufmärsche und Meuchelmorde der Braunhemden bilden die politische, die Wirtschaftskrise und die Massenarbeitslosigkeit die ökonomische Folie zu Althagers Geschichte, die man als Gegenentwurf zu einem Bildungsroman lesen kann. Auf ihrem Hintergrund vollzieht sich der soziale Niedergang des Antihelden, von ihm mit kalter Präzision beobachtet und beschrieben, denn kein philosophisches oder religiöses, auch kein politisches oder ökonomisches Erklärungsmodell vermag seine innere und äußere Leere zu füllen. »Nichts trägt die Schuld. Es kam, wie es kommen mußte, … zufällig und barbarisch blind. Ich kann es nicht deuten«, schreibt er Agathe, als sie ihn eines Vermögenden willen verlassen hat. Wie denn überhaupt die Liebesbeziehungen – mit der Buchhalterin Agathe, der Tänzerin Doris und der Prostituierten Mimi – in ihrer Illusions- und Aussichtslosigkeit zu den anrührendsten Passagen des Romans gehören.
Amérys Erstling ist beklemmend aktuell. Die Zerstörung eines Menschen durch die Arbeitslosigkeit wird präzise beschrieben – so die Sinnlosigkeit des morgendlichen Aufstehens –, seine Ohnmacht in geradezu zeitlosen Sätzen auf den Punkt gebracht: »Die ungeheure Menge freier Zeit, die nun sein Leben erfüllte, hatte jeden Begriff von Freiheit in ihm erdrückt.« Ja, sogar das so oft verklärte Wiener Caféhauswesen zeigt sich von seiner bitteren Seite: Nicht geniale Poeten à la Peter Altenberg oder Hugo von Hofmannsthal treffen sich hier, sondern verluderte Nichtsnutze, die ihre Zeit mit dumpfem Kartenspiel zubringen, abgestumpfte Zuhälter und Zyniker, die ihre aufgestauten Aggressionen an noch Schwächeren auslassen. Massenarmut und Rechtsradikalismus – wäre da nicht das unterschiedliche Zeitkolorit, könnte man bei einigen Passagen meinen, der Roman spiele heute.
Daß die Sprache gelegentlich künstlich und exaltiert wirkt, daß der Handlungsstrang streckenweise unter den politisch-psychologischen Deutungsexkursen verlorenzugehen droht, muß man dem Erstlingswerk eines gerade Zwanzigjährigen nachsehen. Die intellektuelle Potenz des Autors, der damals noch Hans Mayer hieß und später zu den bedeutendsten europäischen Intellektuellen gehören wird, ist in diesem Werk bereits völlig präsent. In der Verlorenheit des Protagonisten erinnert das Buch an Kästners Fabian, in der psychologischen und intellektuellen Durchdringung an Beauvoirs Mandarins: »Ihm vereiste jedes warme innere Strömen zu bannenden Worten, die dann auf einmal da waren und mit unheimlicher Gewalt, gleichsam selbständig geworden, die oberflächenhaften Formen erschufen … Dem Wissen um den Zustand seiner Seele fehlte jeder moralische oder auch nur blindaktive Motor. Die kraftlose Erkenntnis kältesten Geistes half ihm nicht«.
Die Wiederentdeckung der Schiffbrüchigen ist nicht allein eine kleine literarische Sensation, sondern kommt genau zur richtigen Zeit.
Jean Améry: Die Schiffbrüchigen. Roman, Klett-Cotta-Verlag Stuttgart 2007, 336 Seiten, 22 Euro
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