von Gerd Kaiser
Jüngst von einem Freund danach befragt, was im geistig-kulturellen Leben Polens die Gemüter in diesem Sommer bewege, sei kurz gesagt, daß es – über die tagesaktuellen Geschehnisse hinaus – die alten, also immergrünen Themen sind. Es geht um Polens und der Polen Selbstverständnis, um Polens Zukunft, und dabei auch um Polens Verhältnis zu seinen Nachbarn im Westen wie im Osten. Rußland und »die Russen« beschäftigen die Köpfe und Herzen in Polen vor allem. Von den Beziehungen des Landes zu Deutschland und »den Deutschen« soll heute einmal nicht die Rede sein.
Eine Schwemme von Büchern junger Autoren vermittelt in der science-fiction-Tradition des vor einem Jahr verstorbenen Stanisław Lem ein durch und durch düsteres Bild von Polen und der Polen Zukunft. Es sind dies neben anderen die Bücher der jungen Schriftsteller Paweł Huelle und Krzysztof Varga. Huelle sieht die Hansestadt Gdańsk in der erwarteten Apokalypse ab Mitte der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts in den Händen militanter Islamisten, Varga erwartet nach einem totalen Krieg um 2023 ein totalitäres Staatswesen in Polen. Düstere Bilder allemal.
Die junge Generation stimuliert zunehmend mit ihren literarischen und wissenschaftlichen Arbeiten Polens geistiges Klima. Der Poet Tomasz Jastrun, Jahrgang 1950, sieht seine Landsleute seit Jahrzehnten aus ferner Nähe. Als Emigrant lebt er in Frankreich. Auch Adam Zamoyski, Jahrgang 1949, der in der Tradition der bekannten polnischen Familien Zamoyski und Czartoryski steht und in England aufwuchs, übt mit seinen Büchern einen starken Einfluß auf die geistige Atmosphäre in Polen aus. Letztgenannter mit Büchern über Frederyk Chopin und Ignacy J. Paderewski sowie jüngst über Napoleons Marsch nach Moskau und die Folgen dieses historischen Ereignisses für Polen und für Europa.
Jastrun sieht seine Landsleute, vor allem die jeweils Herrschenden, durchtränkt von Mißtrauen gegen Konkurrenten und Polens Nachbarn. In Polen prägten über Jahrhunderte entstandene und gepflegte Denkmuster die Denk- und Verhaltensweisen der Landeskinder. Die Schriftstellerin Eliza Orszeszkowa – deren Werk bis in die Gegenwart lebendig ist – stellte vor anderthalb Jahrhunderten fest: »In Polen ist es seit eh und je so wie heute. Spülicht und Spucke für unabhängige und hochherzige Denker, Anerkennung und Enthusiasmus für Schafsköpfe oder Schurken.«
Für Mißtrauen von Polen gegenüber Rußland und »den Russen« verweist Jastrun auf Gründe, beklagt aber auch die seit Jahrhunderten wuchernde Unsitte, die hohen Ansprüche gegenüber anderen nicht auch an sich selbst zu legen. Anders als Jastrun und Zamoyski wirkt ein Autor wie Andrzej Mularczyk, Jahrgang 1930, von innen.
Eines der Bücher, das in Polen in diesen Zusammenhängen seit Monaten diskutiert wird, ist der Katalog gegenseitiger Vorwürfe von Polen und Russen. Die Liste dieser Vorwürfe ist lang und emotionsbeladen. Aufgelistet wird unter anderem, was sich in der sogenannten schöngeistigen Literatur und im Alltagsbewußtsein an Stereotypen angesammelt hat. So ist »der Russe« in der Vorstellungswelt »des Polen«: ein Barbar, ein Unterdrücker, Leuteschinder, Betrüger, Gauner, heimtückisch zudem und ohne Lebensart. Allerdings, und ohne sich, wie es in dem von Andrzej de Lazari herausgegebenen Werk (über 500 Seiten + CD-Rom) heißt, darüber klarzuwerden, daß »der Russe« die gleichen Vorurteile gegenüber »dem Polen« hat und »im Westen« diese gleichen Vorurteile »den Polen« angedichtet werden. Vorurteile dieser Art entsprechen einem Tucholsky-Wort zufolge zwar allesamt nicht der Wahrheit, werden aber beim nächsten Krieg zu lesen sein.
Mehr als genug Kriege zwischen Rußland und Polen in den vergangenen zwei Jahrhunderten haben nicht nur dafür gesorgt, daß immer wieder Stereotype in den Vordergrund gerückt wurden, sondern auch dafür, daß sich in langen Kriegs- und Besatzungsjahren Ereignisse tief ins Gedächtnis einbrannten. Eines dieser Ereignisse ist Katyn. Ende Juni wurde unter dem Titel Katyn – post mortem in Warschau ein aufsehenerregendes Buch vorgestellt. Sein Autor, Andrzej Mularczyk, ist ein geschätzter polnischer Schriftsteller, Publizist und Szenarist. Sein neues Buch, eine Filmerzählung, entstand im Auftrag des derzeit berühmtesten polnischen Regisseurs: Andrzej Wajda.
Dessen Film wird am 17. September unter dem gleichen Titel wie Mularczyks literarische Vorlage Premiere haben. Das Datum ist kein Zufall. Am 17. September 1939 marschierten ohne Kriegserklärung sowjetische Truppen in Polen ein. Eine Folge war, daß annähernd 25000 polnische aktive und Reserveoffiziere zu Kriegsgefangenen wurden. Einer von ihnen war Wajdas Vater. Mit einigen Tausend seiner Schicksalsgefährten kam er im Mai 1940 aus dem sowjetischen Kriegsgefangenenlager Kosjelsk auf einen Transport in den Wald von Katyn, unweit von Smoljensk. Dort teilte er das Schicksal von mehr als viertausend Offizieren aus diesem Lager. Er wurde hinterrücks erschossen und in einem der Massengräber namenlos verscharrt.
Erzählt wird die Vergangenheit aus der Sicht von drei polnischen Frauen. Ihre Lebenswege – jede liebte einen der Offiziere, die in Katyn ermordet wurden – verbinden historisches Geschehen mit polnischer Nachkriegsgeschichte. So beginnt die Geschichte nicht im Todesjahr 1940, sondern 2001. Die Retrospektive führt in die Nachkriegsjahre 1945/46, und der Kreis von Tod und Leben schließt sich zu Anfang eines neuen Jahrhunderts. War doch das Verbrechen an den Kriegsgefangenen nicht nur immer im Bewußtsein der direkt betroffenen polnischen Familien, sondern ausnahmslos aller Polen. Historisches Geschehen, Verbrechen, Lüge und auch Selbstbetrug werden nicht als abstrakte Theorie, sondern in Verbindung mit Lebensgeschichten und -erfahrungen nacherlebbar. Die Heldinnen erfahren, daß man nicht leben kann, ohne seine Toten in Würde zu bestatten. Deutlich wird, daß ein Volk, das sich nicht zu seiner Vergangenheit bekennt, seine Identität verliert und deshalb keine Zukunft haben kann.
Ein eigen Ding ist es mit einem Buch, das soeben in Warschau erschienen ist. Es ist die Übersetzung einer historischen Reportage des russischen Autors Wladimir Abarinow. Dessen Thema ist wie das Andrjej Mularczyks Katyn. Abarinows Buch ist eines der seltenen, in denen ein Russe sich mit den Henkersknechten von Katyn anlegt – so der Titel der im angesehenen polnischen Verlag Znak erschienenen historischen Reportage, die im Auftrag der russischen Wochenzeitung Literaturnaja Gaseta geschrieben wurde. Der Autor wurde im eigenen Land als Nestbeschmutzer verleumdet, aus einer Grundhaltung heraus, die die Länge der Liste der im oben erwähnten »Katalog« angehäuften Vorurteile stimuliert. Sind ihr zufolge doch »die Polen« von Natur aus Unterdrücker, Schinder, heimtückisch zudem – siehe oben. Abarinow gab nicht nach, grub tiefer und tiefer, bis zur historischen Wahrheit.
Aber es gehört zum schwierigen Verhältnis der beiden Völker, daß diese verdienstvolle Arbeit erst nach mehr als einem Jahrzehnt – bereits 1991 hatte sie in Rußland eine scharfe und langandauernde Debatte über Polen und Russen ausgelöst – dem polnischen Leser in die Hand gegeben wurde.
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