von Wolfgang Sabath
Hier ist von zwei Büchern zu reden, die scheinbar viel miteinander zu tun haben und dennoch meilenweit voneinander entfernt sind. Die jeweiligen Protagonisten sind Polen und Deutsche – doch damit haben sich die Gemeinsamkeiten auch schon erledigt, jedenfalls beinahe. Denn in dem ersten Buch debattieren vor allem Wissenschaftler und Politiker über Deutsche und Polen – Erinnerung im Dialog, in dem anderen erinnern sich Einwohner zweier Dörfer, die sich zwar steinwurfweit an der Oder gegenüberliegen, aber nur wenig Kontakte zueinander pflegen, sondern mehr oder weniger Rücken an Rücken leben: Aurith – Urad.
Die Texte des ersten Buches sind Beiträge, die auf einer Konferenz der Stiftung Genshagen gehalten wurden. Darum wird, wer derartige Stiftungs-Veranstaltungen kennt, nicht allzusehr enttäuscht sein. Denn in der Regel reisen Referenten zu solchen Veranstaltungen mit ziemlich fertigen Manuskripten an, verlesen sie, und wenn alles gut »getimt« ist, aber nur dann, springen für jeden Referenten noch zehn Nachfrage- beziehungsweise Debattenminuten heraus. Reste können dann unter Umständen abends beim Buffet »abgearbeitet« werden. Will sagen: Für gute, freimütige und unkonventionelle Debatten sind derartige Zusammenkünfte meistens nicht sehr geeignet.
Und wenn dann noch die Besetzungsliste vorrangig aus Prominenten, Offiziellen und Offiziösen besteht, ist man als zuhörender Konferenzteilnehmer garantiert vor Überraschungen sicher. Zumal dann, wenn man über die politrednerischen Aktivitäten der meisten Vortragenden einigermaßen im Bilde ist. In Genshagen bei Berlin standen auf der Rednerliste so bekannte Zeitgenossen wie Bronislaw Geremek und Richard von Weizsäcker, Feliks Tych und Markus Meckel, Rudolf von Thadden und Adam Zagajewski.
Während der Konferenz fiel auch einmal der Begriff »Erinnerungselite«, allerdings nicht wie in der Werbewirtschaft in einem quantitativen, sondern in einem mehr qualitativen Kontext gebraucht. Damit mag der Redner nicht unrecht gehabt haben, denn man war unter sich, verfügte mehr oder weniger über gleiches oder ähnliches historiographisches Handwerkszeug, und vor allem: Man war auch – graduelle Abweichungen verändern nicht das Gesamtbild – politisch unter sich. Auch das eine zeitgenössische Form von Geschichtsverhandlung, in Polen vermutlich nicht anders als in Deutschland: Kennst du die Stiftungen (oder andere Veranstalter), weißt du, was und wie auf der jeweiligen Konferenz geredet und geurteilt und verurteilt werden wird. Das wird mit der Zeit langweilig. Ich kann zwar in dieser Angelegenheit nicht über polnische Verhältnisse befinden (weil ich sie nicht gut kenne), aber hierzulande scheint es zum Beispiel absolut ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, daß sich unterschiedlich »angebundene« Stiftungen – oft bei nachweislich gleichen Themen! – zu gemeinsamer Debatte zusammenfinden. Jeder frißt aus seinen Fördertöpfen …
Zurück nach Genshagen. In fast allen Beiträgen wurde wieder einmal deutlich – auch wenn das vermutlich von den meisten Beteiligten nur ungern zugegeben würde –, daß Erinnerung, Geschichte, Geschichtsaufarbeitung natürlich durchweg politisch funktionalisiert und instrumentalisiert sind. Mögen sich die Themen, die in Polen und Deutschland auf derartigen Geschichtskonferenzen behandelt werden, auch unterscheiden: Die Strukturen, innerhalb derer solche Debatten verlaufen, ähneln sich. Der Verlauf der Geschichtsdebatten und ihre öffentliche Widerspiegelung ist – hie wie da – immer auch von der jeweiligen innenpolitischen Großwetterlage und jeweiligen politischen Interessenlagen bestimmt. Das war in Polen sehr gut an der Jedwabne-Debatte zu sehen.
Auf ein anderes Beispiel politisch beeinflußten Debattenverlaufs machte Feliks Tych, bis 2006 Leiter des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau, aufmerksam. Zum Standardrepertoire jedes patriotischen Polen gehört es, der Ansicht zu sein, »die Russen«, »die Sowjets« (wie’s beliebt …) hätten die Kämpfer des Warschauer Aufstands im Stich gelassen – das gehört übrigens auch zum Repertoire jedes anständigen deutschen Polen-Korrespondenten … Anläßlich des 60. Jahrestages des Aufstandes wurde in Warschau ein Museum eingeweiht, Feliks Tych befand, es handele sich um ein »sehr gutes Museum – mit der einzigen Ausnahme, daß der Besucher in ihm keinerlei Informationen über die genauen Umstände erhält, unter denen die Entscheidung zum Aufstand getroffen wurde«. Die Kontroversen innerhalb der Heimatarmee (AK) und in der polnischen Militärführung im Westen seien ebenso unberücksichtigt geblieben wie die Ansicht von General Anders, »der den Aufstand als Verrat bezeichnete«. Das paßt (momentan) nicht ins Bild.
Auch von den Geschichten, die Tina Veihelmann für das zweisprachige Buch Aurith – Urad aufspürte, sind nicht alle »passend« – und das macht das Buch so lesenswert. Denn die Polen und die Deutschen, die darin von ihrem Leben und ihrem Dorf erzählen, müssen niemandem nach dem Munde reden, nicht einmal der Autorin. Denn die wenigsten von ihnen haben etwas zu »verlieren«. Als die Alten 1945/46 in die beiden Dörfer kamen, die zuvor ein Dorf gewesen waren – auch auf der westlichen Seite der Oder besiedelten Fremde eine leere Siedlung –, gelangten sie in eine Gegend, über die mehrmals der Krieg gegangen war. Doch Urad war – was für ein Glück – keine Wüstenei geworden, und Aurith am Westufer auch nicht, obwohl sich die intakte Dorfstruktur auf polnischer Seite bald ändern sollte: Viele leerstehende Häuser wurden abgerissen: Steine für den Wiederaufbau Warschaus.
Die Siedler beiderseits des Flusses rackerten sich ab, manche kamen zu bescheidenem Wohlstand, andere blieben zeitlebens arm. Jetzt sind sie alt, und die Jungen erzählen andere Geschichten. Vom »goldenen Jahr« 1989, vom Schmuggel, vom Reichwerden, vom Sich-Durchschlagen – Arbeitslosenrate zur Zeit der Recherchen Tina Veihelmanns in Urad und Umgebung: 28 Prozent. Auch diese Geschichten der Jungen – das ist ein Vorzug dieses Buches – wirken alle sehr authentisch. Nicht, daß sich die Befragten in ihren Berichten nicht auch von Interessen leiten ließen, aber sie sind davon überzeugt, daß es die ihren sind. Jedenfalls ist in den Berichten der Dörfler nicht erkennbar, daß sie sich viel um aktuelle Sprachregelungen scheren oder in sie gesetzten Erwartungen folgen würden. Was ja nicht bedeutet, daß nicht auch die Nachkommen der Erstsiedler in die Zeitläufte Geworfene sind, irgendwie; daß nicht in Berlin und Warschau (oder in Frankfurt/Oder und Gorzów) Leute an Schreibtischen säßen, deren Tätigkeit auch die Handlungen oder Unterlassungen der Leute von Aurith und Urad beeinflußten.
Eine Stelle in dem Buch hat mich besonders »beeindruckt«, ich zitiere Veronika Kirchhoff, Aurith: »Früh, zwischen fünf und sechs fahre ich mit meinem Packen Zeitungen los, die verteile ich dann in Aurith und Kunitzer Loose. Im Winter breche ich noch früher auf, weil ich bei Schnee und Eis langsamer vorankomme. So früh auf der Straße sieht man dann diese Leute, die Richtung Ziltendorf laufen. Männer, Frauen, auch kleine Kinder. Manchmal macht mir das Angst. Wenn der BGS sie findet, bringt man sie wieder zurück. Das ist bitter. An einem Morgen saß hier vor unserem Haus eine junge Frau, eine Afghanin, die bibberte vor Kälte. Sie hatte nur so eine Umhängetasche als Gepäck. Es war eine Mutter, die hatte drei Kinder dabei, und der Säugling schrie die ganze Zeit. Die Frau hat mir leid getan. Man ist ja selber Mutter. Aber ich habe trotzdem den BGS angerufen. Weshalb? – Ja, ich mache das immer so. Wir sollen ja den BGS rufen, wenn wir so etwas sehen.«
Anna Hofmann, Basil Kerski (Hrsg.): Deutsche und Polen: Erinnerung im Dialog, fibre Verlag Osnabrück 2007, 170 Seiten, 19,50 Euro; Tina Veihelmann: Aurith – Urad, zwei Dörfer an der Oder. Deutsches Kulturforum östliches Europa, Potsdam 2006, 240 Seiten, deutsch und polnisch, diverse Fotos, 9,80 Euro, 30 Złoty
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