Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 25. Juni 2007, Heft 13

Vom Lesen und Schreiben – im Jemen

von Maxi Siegmund, Sana’a

Vor einigen Tagen stand in der jemenitischen Zeitschrift Al-Masaar (zu deutsch: Die Umlaufbahn), einem vierzehntägig erscheinenden politisch-kulturellen Blättchen, eine kleine Glosse, die mit dem Hinweis begann, daß fünfzig Prozent der Jemeniten Analphabeten seien. Die Rechnung ging wie folgt weiter: Wenn fünfzig Prozent nicht lesen und schreiben können, heißt das bei einer Einwohnerzahl von etwas mehr als zwanzig Millionen, daß fünfzig Prozent eben 10250000 entsprechen. Die Regierung habe ein weiteres Programm diskutiert, wonach sechstausend Lehrer zur Ausfüllung der Bildungslücke ausgebildet werden sollen, die in den kommenden zwei Jahren 150000 Landsleuten Lesen und Schreiben vermitteln werden, was jedoch nur zirka einem Prozent der Analphabeten entspricht. Aber ebenso heißt es, daß es bei gleichem Tempo noch weiterer 135 Jahre bedarf, um im Computerzeitalter zu einer alphabetisierten jemenitischen Bevölkerung zu gelangen.
Als Westeuropäerin, die mit dem Bewußtsein aufgewachsen ist, daß sämtliche Urgroßeltern und noch weiter entfernte Generationen der Schriftsprache – manchmal sogar mehrerer – mächtig waren, sehe ich die Menschen im Bus, auf der Straße, den Taxifahrer und viele Kinder an und frage mich, ob er oder sie lesen oder schreiben kann – wenigstens den Namen. Je weiter man sich jedoch von Jemens Hauptstadt Sana’a entfernt und je ländlicher es wird, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit – besonders bei Frauen, deren Analphabetenrate bei etwa siebzig Prozent liegt.
Bis 2001 galt im Jemen eine allgemeine Wehrpflicht. Dem Dienst an der Waffe konnte man sich durch eine Art soziales Jahr als Lehrer an einer Schule entziehen. Abdelrani, heute Student der Romanistik, war einer von ihnen. Er unterrichtete an einer Schule in Sana’a fast alles, was der Fächerkanon hergibt: Arabisch, Geschichte und Mathematik. Ein Gehalt gab es nicht, am Ende des Jahres jedoch eine Prämie oder Aufwandsentschädigung.
Heute – mit dem Wegfall eines obligatorischen Dienstes – beruht dieses Hilfslehrermodell auf Freiwilligkeit, weiterhin unentgeltlich, jedoch mit großer Unterstützung durch die einzelnen Schuldirektoren, die über jeden Freiwilligen höchst dankbar sind.
Akram, ein Bekannter, erzählte mir, daß er zwar zwei Monate in einer Grundschule in Sana’as Altstadt unterrichtet habe, jedoch den Dienst quittieren mußte: Er sah sich als junger Mensch, der nur das Abitur in der Tasche hat, der Situation nicht gewachsen, zirka sechzig Schülern in einer Klasse die arabische Grammatik näherzubringen. Ein Studienkollege von ihm, Basil, erzählte, daß er in der Abiturvorbereitung an einer Schule gearbeitet habe.
Immerhin konnte ich zwei finden, denn sehr beliebt ist diese Arbeit nicht, schon gar nicht außerhalb der Städte, in ländlichen Gegenden, auf den Dörfern; für eine junge Frau kommt aufgrund gesellschaftlicher Konventionen eine Trennung von der Familie natürlich überhaupt nicht in Frage.
Da das System auf Freiwilligkeit und Ehrenamt beruht, bedarf es viel Enthusiasmus und Idealismus neben einer gehörigen Portion an Durchsetzungsfähigkeit und Begeisterung. Oder wenigstens einer Perspektive. Eines der wenigen positiven Beispiele: Vor Jahren hatte eine junge Frau, ohne Ausbildung, an einer Schule einen Vertrag erhalten und konnte sich über mehrere Jahre mit dieser Tätigkeit ihr Studium der Rechtswissenschaft finanzieren.
Als ich vor zehn Monaten hier ankam, traf mich die sichtbare und unsichtbare Armut des Jemens wie ein Donnerschlag, eine lähmende Armut, die nicht beschreibbar ist. Was in Deutschland im kleinen wächst, nämlich die Verbindung von Armut und Mangel an Bildung, ist hier im großen Stil vertreten.
Und so sehe ich jeden Morgen die Studierenden über den Campus laufen, den Campus der Universität Sana’a, die mit ihren 37 Jahren die älteste Universität des Landes ist. Diese jungen Menschen sind die intellektuelle Oberschicht dieses Landes, und auf ihnen lastet eine enorme Verantwortung.