von Ingrid Pietrzynski
Generationen von DDR-Bürgern sind mit seinen Kinderliedern aufgewachsen. Wer möchte nicht im Leben bleiben … oder Wenn Mutti früh zur Arbeit geht … hatten schon Volkslied-Charakter erreicht. Doch das Schaffen des Komponisten Kurt Schwaen umfaßt viel mehr: Opern, nicht nur für Kinder, Kammer- und sinfonische Musik, Vertonungen von Lyrik, Filmmusiken, Miniaturen – über 600 Werke.
Eine weite Reise heißt ein Dokumentarfilm, den Jochen Kraußer vor sechs Jahren über und mit Schwaen gedreht hat. Ein Porträtfilm, der so ganz anders ist als das, was es in diesem Genre täglich im Mainstream-Fernsehen zu sehen gibt. Für eine Entdeckung beziehungsweise Wiederentdeckung eines bemerkenswerten Zeitgenossen sei er nicht nur Musikkennern empfohlen.
Darin unternimmt der Komponist eine Reise zu seinen Lebenslandschaften, mit einem Segelflugzeug – mit Zwischenlandungen und Tiefflügen, mit Distanz und Nähe. Der Regisseur, gleichzeitig Autor und Kameramann, läßt Schwaen diese Reise, ein Gleiten durch Zeit und Raum, selbst kommentieren. Wie angenehm.
Und dieser Mann hat etwas zu sagen, und zwar mit Charme und Witz, ohne Larmoyanz oder Pathos. Keine Schlagworte und Sprechblasen, ob alte oder heute angesagte, erklingen neben der Schwaenschen Musik. Ein schlanker, älterer Herr tritt dem Zuschauer entgegen und macht ihm nicht nur die Schönheit und Kreativität des Alters deutlich, sondern auch die Erfülltheit eines nicht immer leichten Lebens in den wechselvollen Zeitläuften des 20. Jahrhunderts.
Rein geographisch ist die Schwaensche Lebensreise – nach heutigen Reisemaßstäben – nicht eben sehr ausladend. Seine Stationen waren unter anderem Kattowice (wo er geboren wurde), Breslau und Berlin (wo er studierte), Luckau (wo er in den dreißiger Jahren drei Jahre inhaftiert war), Berlin-West und -Ost (nach dem Krieg), das Refugium an der Ostsee sowie der Arbeits- und Lebensort in Berlin-Mahlsdorf mit seinem heiter-einladenden Garten.
Der Film zeigt, welche tiefen Eindrücke und Einflüsse diese Stationen auf Schwaens Musik und sein Leben ausübten. Auch deshalb, weil der engagierte Zeitgenosse diese Stationen nicht nur als Beobachter wahrnahm, sondern sich in die politischen Kämpfe seiner Lebenszeiten einbrachte. Fürwahr, in diesem Sinne blättert der Film eine weite Reise zu Lebenslandschaften der jüngsten deutschen Geschichte auf, die einen anderen Begriff von Weite vermitteln als das heute moderne Jetten durch die Welt. Dafür findet Kraußer sensible Bildlösungen.
Lebensgefährten werden gewürdigt, wie unter anderem die in der Nazi-Zeit als Widerstandskämpferin hingerichtete Tänzerin Oda Schottmüller und der an den Folgen der NS-Haft gestorbene Maler Emil Stumpp, Schwaens Schwiegervater. Oder seine früh verstorbene erste Frau Hedwig, Tänzerin und Tanzpädagogin. Und Brecht, mit dem der Komponist in den frühen fünfziger Jahren zusammenarbeitete, eine Begegnung, die sein Schaffen geprägt hat. Auch die Schriftsteller Wera und Claus Küchenmeister, Brecht-Schüler und Autoren einiger Schwaenscher Kinderopern, kommen vor.
Der Komponist vertonte diese Texte nicht nur. Er erarbeitete sie mit Kindern und schuf dabei Modelle für spielerische und kreative Kunst- und Weltaneignung der Heranwachsenden. Schließlich, und nicht zuletzt, die agile, unermüdliche Musikpädagogin Ina, seine Frau, die nicht nur das Schwaen-Archiv aufgebaut hat. Dieses Archiv birgt Schätze, die weit über das Interesse von Musikern und Musikhistorikern hinausgehen. Es enthält authentische zeithistorische Zeugnisse, wie etwa die unveröffentlichten Tagebücher von Schwaen. Gleichsam sein Gedächtnis, diszipliniert Tag für Tag im Stakkato geschrieben.
Versinnbildlicht in der Leichtigkeit des Segelflugs, durchzieht den Film ein heiterer Grundton. Ein erfülltes Leben wird besichtigt, auf das in Heiterkeit und ohne Verbitterung geschaut wird. Nirgends stellt Schwaen sich als Opfer der Verhältnisse dar. Was heutzutage selten geworden ist. Weder wenn er über den Alltag im Gefängnis Luckau erzählt, noch wenn von bestimmten kulturpolitischen Verdikten in der DDR die Rede ist, denen auch seine Musikschöpfungen nicht immer entgingen. Damit gelingen Kraußer und Schwaen – zugleich – eine unaufgeregte, unprätentiöse Darstellung der DDR-Geschichte. Vielleicht ein Grund dafür, daß das heutige Fernsehen sich nicht für diesen Film interessiert? Gefördert wurde er durch die Filmförderung Mecklenburg.
Schwaens Lebensmaxime, »gebraucht werden«, ist für ihn bis heute gültig. In den deutschen Auf-, Um- und Abbrüchen, die er erlebte, hat er nicht resigniert oder sich zurückgezogen, sondern ist aktiv geblieben. Jungen Musikern schreibt er Stücke »auf den Leib«, der Kontakt mit ihnen regt seine Produktivität an. Er steht zu seinem Leben, zu seiner Lebensreise, stellt sich in Frage und »endet mit einem Fragezeichen«: keinen endgültigen Wahrheiten. Kurt Schwaen wurde am 21. Juni 98 Jahre alt. Herzliche Glückwünsche nach Mahlsdorf!
Jochen Kraußer: Kurt Schwaen. Eine weite Reise. Dokumentarfilm, DVD 103 min / stereo, cesar filmproduktion 2001. Informationen unter www. kurtschwaen.de
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