von Gerd Kaiser
Bereits vor dem »polnischen Oktober« des Jahres 1956 wurden in der DDR die Ereignisse im Nachbarland aufmerksam verfolgt. Studenten und auch Hochschullehrer an der Humboldt-Universität zu Berlin, an den Universitäten in Halle, Leipzig und Greifswald, an Technischen und Pädagogischen Hochschulen in Dresden, Magdeburg, Weimar und Potsdam, an der Bergakademie Freiberg sowie an den Kunsthochschulen in Berlin und in anderen Städten suchten sich ein Bild von den Ereignissen in Polen zu machen. Dem dienten nicht zuletzt briefliche Kontakte, die schnell in das Blickfeld der Postzensur des MfS gerieten.
Intellektuelle in der DDR suchten, aus den Ereignissen in Polen zu lernen. Wie dort ging es 1956 auch in der DDR um eine Demokratisierung der Gesellschaft – die öffentliche Meinungsbildung eingeschlossen. Es ging um eine Überwindung der weitreichenden Abhängigkeit von der UdSSR und dem dort verwirklichten Gesellschaftsmodell, also um einen – ursprünglich mit dem Namen Anton Ackermann (1946) verbundenen – »deutschen Weg« zum Sozialismus. In Anklang daran sprach man in Polen im Herbst 1956 von einem »polnischen Weg«.
Da Diskussionen dieser Art das Zentralnervensystem der Politik berührten, hielt die offizielle Politik hart dagegen. In mehreren Universitäts- und Hochschulstädten, auch in Berlin, standen »Kampfgruppen der Arbeiterklasse« Gewehr bei Fuß. Als an der Hochschule für Architektur und Bauwesen und an der Musikhochschule in Weimar, wo »polnische Nachwehen« noch im Mai 1957 diagnostiziert wurden, weil die Diskussionen um innenpolitische Veränderungen in der DDR andauerten, war in Berlin mit einem Prozeß vor dem Obersten Gericht der DDR an Wolfgang Harich und Genossen bereits »wegen Teilnahme an einer konterrevolutionären Gruppierung« ein Exempel statuiert worden.
Am 22. März 1957 übersandte der Leiter der Internationalen Abteilung des ZK der SED, Peter Florin, an das ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei einen knappen Begleitbrief zu einer umfassenden Darstellung der Beziehungen zwischen polnischen Gesellschaftswissenschaftlern und deren Kollegen in der DDR, vor allem zu Wolfgang Harich.
Dieser, Philosoph an der Humboldt-Universität, unterhielt seit 1954 Kontakte zu Leszek Kołakowski und Tadeusz Kroński. Beide Professoren forschten und lehrten an der Warschauer Universität in den Bereichen Philosophie und Soziologie. Im März 1956, das heißt nach dem XX. Parteitag der KPdSU, intensivierten sich diese beruflichen wie politischen Kontakte. Dabei ging es auch um Veröffentlichungen Harichs in Polen, wobei mit deren Rückwirkung auf die DDR gerechnet wurde. Im Oktober 1956, auf dem Höhepunkt der politischen Krise in Polen und ernster Krisenanzeichen in der DDR, hatte Wolfgang Harich in Weimar während einer Konferenz über Heinrich Heine mehrere Begegnungen mit den polnischen Literaturkritikern Roman Kersten und Marcel Ranicki (beide Warschau) sowie mit Maria Kofta (Poznan). In diesen Gesprächen gaben sich die drei polnischen Kritiker als Antistalinisten zu erkennen und verwiesen auf ihre politischen Auseinandersetzungen mit den Stalin-Anhängern in der Führung der PVAP. Diese wurden nicht nur im Volksmund, sondern selbst von Ministerpräsident Józef Cyrankiewicz wegen ihrer dogmatischen Haltung als »Konserven« bezeichnet.
Unter Berufung auf den Gang der Ereignisse in Polen äußerte der damals weitgehend unbekannte Marcel Ranicki seine Hoffnung auf demokratische Veränderungen in der DDR. Anregungen der Gesprächspartner aus Polen wurden von Harich aufgegriffen. Im November 1956 entschloß sich Harich, einer Einladung von Edita Prawin nach Warschau zu folgen. Deren Vater, Jakub Prawin, war nach 1945 Chef der Polnischen Militärmission in Berlin gewesen und arbeitete 1956 als Vizepräsident der Polnischen Nationalbank. Bevor Harich zu einer Diskussion über ein Buch mit dem polnischen Wissenschaftler Adam Schaff, seit 1952 Mitglied der Polnischen Akademie der Wissenschaften, 1951 bis 1956 Chefredakteur der Zeitschrift Philosophisches Denken, ab 1956 in internationale wissenschaftliche Gremien gewählt, nach Warschau reisen konnte, wurde er in der DDR inhaftiert und ein Vierteljahr später vor Gericht gestellt.
Nach Harichs Verhaftung wandten sich am 6. Dezember 1956 »tief beunruhigt« 26 polnische Wissenschaftler mit einem solidarischen Brief an die Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Sie sparten nicht an deutlicher Kritik an der Vorgehensweise von DDR-Behörden gegen »unseren Freund, Dr. Wolfgang Harich«, in dem sie »einen der herausragendsten marxistischen Intellektuellen der jüngeren Generation« sahen. Aus genauer Kenntnis der wissenschaftlichen und politischen Tätigkeit sowie der Ansichten Harichs, erklärten sie, »niemals« einer derart unerhörten Anklage wie Kontakte zu fremden Agenturen und der Harich unterstellten Absicht, den Kapitalismus in der DDR wiederherzustellen, Glauben zu schenken. Die Unterzeichner forderten, die Angelegenheit unverzüglich zu klären, und verlangten die öffentliche und freie Möglichkeit für Harich, sich gegen alle ihm gegenüber erhobenen Vorwürfen verteidigen zu können.
Zu den Unterzeichnern des Briefes gehörten bedeutende Wissenschaftler. Unter ihnen der Logiker Kazimierz Ajdukiewicz (1890-1963), Bronisław Baczko, der mit Forschungen zu Rousseau sowie zu Einsamkeit und Gemeinschaft, an den Universitäten in Warschau, später in Clairmont-Ferrand und Genf lehrte, Zygmunt Bauman, ein Theoretiker des Postmodernismus, der nach seiner antisemitisch motivierten Vertreibung aus der Warschauer Universität 1968 in Leeds wirkt, Julian Hochfeld, ein Wissenschaftler mit Wurzeln in der polnischen sozialistischen Bewegung, der zur Theorie der Soziologie sowie zur Geschichte des sozialistischen Gedankens forschte und lehrte, sowie schließlich die international anerkannten Leszek Kołakowski und Adam Schaff, die ebenfalls – Kołakowski für immer, Schaff zeitweise – ins Exil getrieben wurden.
Zu denen, die sich 1956 mit Harich solidarisch erklärten, gehörte auch Jerzy Wiatr. Der Soziologe forschte und lehrte zur marxistischen Theorie der Gesellschaftsentwicklung und zur Soziologie politischer Beziehungen in der Nation. 1996/97 amtierte er als Bildungsminister in Polen.
So unterschiedlich die Lebenswege, die politischen Haltungen und die Forschungsgebiete dieser und zahlreicher weiterer Wissenschaftler in Polen waren, sie schrieben mit ihrem solidarischen Brief eine Seite in der Geschichte der polnisch-deutschen Beziehungen, die nicht überblättert werden sollte.
Das Mitglied des Politbüros der PVAP Jerzy Morawski stimmte den ihm unterbreiteten Vorschlag am 16. April 1957 zu: Die von seiten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands angemahnten »Maßnahmen« gegen die polnischen »Aufrührer« solle man einfach unbeachtet lassen. Keine Antwort war auch eine Antwort.
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