Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 25. Juni 2007, Heft 13

Kidnapping

von Gertrud Eggert, Peking

Frau Zhang ist die Anspannung noch anzumerken, und so richtig wird sie sich wohl nie von dem Schreck erholen. Auch während unseres kurzen Gesprächs läßt sie keine Sekunde ihre neben uns auf dem Fußboden spielende Tochter aus den Augen. Dabei hatte die Familie Zhang noch »Glück«, denn die Entführer von Lili ließen das Mädchen nach langen 24 Stunden und der Zahlung von umgerechnet rund zehntausend Euro wieder frei. Auch die Familie des Privatunternehmers Yun in der Inneren Mongolei im Norden Chinas war auf die Lösegeld-Forderung eingegangen. Aber als sie die 2,4 Millionen Renminbi zahlten (zirka 240000 Euro), war Yun Quanmin bereits tot.
Entführungen sind in der chinesischen Gesellschaft ein neues Phänomen. Waren es Mitte der achtziger Jahre noch zwanzig, so stieg die Zahl in den vergangenen Jahren auf mehrere Tausend an. Im Jahr 2004 wurden insgesamt 3863 Entführungen mit unterschiedlichem Ausgang registriert. Doch anders als beispielsweise in Lateinamerika, wo vielfach die Politik hineinspielt, geht es in China fast ausschließlich ums Geld. Und so erklärt sich auch, warum die meisten Entführungen in den boomenden Küstengebieten geschehen. Hier ist das Privatkapital zu Hause, hier werden täglich viele neue Unternehmungen angemeldet, hier ist der sich rasant vermehrende neue Reichtum für alle sichtbar. So nahmen die Entführungen in der südlich von Shanghai gelegenen Provinz Fujian seit Ende der neunziger Jahre sprunghaft zu, mehr als 1200 fanden allein in dieser Provinz statt. Und immer wieder geraten die Familien der »Reichen« in den Fokus der zum Teil gut organisierten und mit modernem technischen Gerät ausgestatteten Banden.
Vielerorts sind bei Unterrichtsschluß vor den Schulen große Menschenmengen zu beobachten, kaum eine Familie läßt ihr Kind noch allein nach Haus gehen. Auch Frau Zhang hat extra ein Kindermädchen engagiert. Doch so richtig vertraut sie auch dem nicht, sondern schließt es mit dem Kind ein, wenn sie außer Haus ist. Früher habe sie sich voll auf ihre Arbeit konzentrieren können. Jetzt verwende sie die meiste Zeit darauf, immer wieder nach dem Kind zu sehen und seine Umgebung so sicher wie möglich zu gestalten. Herr Yang, ihr Nachbar, habe seinen Sohn kurzerhand auf eine Eliteschule nach England geschickt, erzählt mir Frau Zhang. Doch Lili ist noch zu klein. Aber eine Alternative sei das schon. Jetzt könne sich Herr Yang wieder voll und ganz seiner Arbeit widmen, außerdem sei das Geld gut angelegt und darüber hinaus dem Zugriff des chinesischen Fiskus entzogen.
Es sind die Verlierer und Gestrandeten der Reformpolitik, die sich zusammentun. Sogenannte Freigesetzte aus den Staatsbetrieben, Arbeitslose, Jobsuchende, Wanderarbeiter, enttäuschte Jugendliche, all diejenigen, für die in der auf Leistung und Erfolg orientierten modernen chinesischen Gesellschaft kein Platz ist. Sie hoffen mit dem großen Coup ganz schnell ans gemachte Geld zu kommen, die »Hemmschwelle« ist niedrig geworden. Zu viel haben sie verloren, als daß sie vor brutaler Gewalt, selbst vor Mord, zurückschrecken.
Chinas Bauern sind seit jeher bekannt für ihre Leidensfähigkeit und ihre Geduld. Sie haben ihre Armut Tausende von Jahren ertragen. Und auch als die Reformpolitik ihnen die Möglichkeit gab, in die Städte abzuwandern, um sich dort als billige Lohnarbeiter für die schlecht bezahltesten, härtesten und dreckigsten Jobs zu verdingen, haben sie für sich und ihre Familien geschuftet. Jüngste Studien der Akademie für Sozialwissenschaften ergaben, daß »ihre Kinder«, die heute um die 25 Jahre alte »zweite Wanderarbeiter-Generation« von diesen »Tugenden« nicht mehr viel wissen wollen. Sie sind bereits in den Städten großgeworden, sie wollen die angenehmen Seiten von Umgestaltung und Öffnung genießen.
Doch während auf der einen Seite die Sprößlinge der wachsenden Mittelschicht an alles Geld der Welt kommen, fühlen sich auf der anderen Seite die im Schatten von Konsumtempeln und glitzernden Leuchtreklamen aufgewachsenen jungen Chinesen immer stärker benachteiligt. Auch sie verbreiten »Angst und Schrecken« in den reichen Villenvierteln chinesischer Großstädte.
Allerdings, eine Branche boomt wie nie zuvor: der Security-Markt. Wer es sich leisten kann, heuert Bodyguards an. Beste Chancen in diesen Jobs haben ehemalige Soldaten der Volksbefreiungsarmee. Seit die Personal abbaut – vergangenes Jahr wurden mehr als zweihunderttausend Mann aus dem militärischen Dienst entlassen – stellen Privatunternehmer gern die durchtrainierten und kräftigen Jungs für den eigenen Personenschutz ein und lassen sich den Service auch etwas kosten. Bis zu umgerechnet tausend Euro pro Monat kann ein guter Bodyguard verdienen. Das ist viel mehr, als ein Hochschulabsolvent im mittleren Management eines Unternehmens sich erhoffen kann.