Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 11. Juni 2007, Heft 12

Irland: die vergessenen Opfer

von Martin Behrens

Es war ein kühler Tag im November, als es den ersten von uns in den Wahnsinn trieb. Morgens, kurz nach halb zehn, kamen die Vampire. Dann kam der Van zum Flughafen. Und dann das große Schweigen.
Wolken brauten sich über uns im schneeschwangeren Himmel zusammen. Einsam hing das Schild zum Tag der offenen Tür über der Farm: »Welcome to Camphill Clanabogan«.
Jeremy Blanche sollte nicht der letzte bleiben. Ein halbes Jahr später packte auch ich den Koffer. Übernächtigt, gebrochen. Gereift? Vielleicht. Zumindest um die Erfahrung, wie anthroposophische Heilpädagogik in den Camphill-Lebensgemeinschaften aussieht. Unzählige kamen vor mir, unzählige nach mir. In Irland, Deutschland, Holland, England. Camphill ist überall, wo die Lehren Rudolf Steiners Jünger gefunden haben. Sie kommen, um als »Co-Worker« hier ihren Zivildienst-Ersatz zu leisten. Sie kommen und staunen.
Es ist ein Dienstag, der einzige Tag der Woche, der bleibt, die Dorfgemeinschaft zu verlassen. Ich begebe mich auf Spurensuche. Wandele auf Pfaden, auf denen einst jener Autist wandelte, dem ich nun morgens die Zähne putze, Tabletten verabreiche und abends Haare und Rücken wasche. Danach sitze ich auf der Klobrille und sehe dem Mitfünfziger zu, wie er sich wäscht. Sonst mache er das nicht ordentlich, sagt Rosi, die »Hausmutter«. Sie muß es wissen.
Ein Lastwagenfahrer setzt mich an einer Kreuzung raus. Es sind noch sechs Kilometer zu Fuß entlang einer Rhododendron-Allee. Dann linkerhand den Hügel hoch ins Dorf. James junior, erzählt man sich hier, sei eigentlich der Alleinerbe jenes riesigen Grundstücks, das ich suche. Aber er sei verrückt, lebe irgendwo in einer Irrenanstalt. Mehr wisse man nicht. Manche sagen, es sei eine Sekte. Aber nichts Genaues wisse man. Traurig für die Familie, sagt eine alte Frau, die gerade aus der Dorfkirche kommt und mir erklärt, wie ich zum ausgebombten Anwesen gelange, auf dem frühchristliche Hochkreuze aus dem verwucherten Rosengarten hinter den letzten Stücken Mauerwerk emporragen. Hätte ich die Gabe meiner anthroposophischen Aufpasser, ich könnte jetzt Elementarwesen tanzen sehen. Nur eine Gardine weht im kalten Wind, der durch ein ruiniertes Küchenfensters dringt. Im ehemaligen Wohnzimmer türmen sich Scherben und Trümmer. Ein Blatt Papier, verkohlt. Weit und breit keine Menschenseele. Verlassene Höfe. Verriegelte Hütten.
Ich suche etwas, was ich James mitbringen könnte, ihm im Badezimmer zeigen könnte, wenn es sonst niemand mitbekommt. Ich finde nichts.
Ortskundig und freundlich führt mich auf dem Rückweg ein altes Paar durch die Landschaft – ein Pfad des Terrors. Als das Anwesen in die Luft flog, fuhr Dave Neagh gerade zum Tanken nach Monaghan, erzählt er und zeigt immer wieder auf Häuser, Hütten, Ställe, in denen Nachbarn von Scharfschützen der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) erschossen wurden. Ein Gemälde des Anwesens schmückt die Blümchentapete in der Bauernküche seines Hauses im Schatten der Dorfkirche. »Das war traurig damals für uns alle«, seufzt er. Seine Frau bringt uns frische Brotschnitten. »Der Knall war meilenweit zu hören. Anschließend haben sie die Zugangsstraßen weggebombt, um die Militärpolizei abzuhängen.«
Irrenanstalt? Auch er hat davon gehört. Von Kindesbeinen an lebt James im Camphill. Hat die gesamte Karriere durchgemacht. Irrenanstalt. Nein, antworte ich, ohne zu wissen, weshalb: In Clanabogan werde anthroposophische Menschenliebe praktiziert. Man wolle die Behinderten an Fähigkeiten, nicht an Mängeln messen. Integriere sie in die dörfliche Arbeitswelt in Bäckerei, Werkstatt, Hof und Garten. Ich versuche, ihm »Camphill zu erklären«. Verspüre einen mir später unerklärlichen missionarischen Drang. Aber ich komme mir merkwürdig vor, habe Angst, zuviel zu sagen.
Zurück im Camphill, setze ich mich müde in die Küche. Ich bin hungrig; treffe James. Eigentlich: Sir James. Sir James Anselem Maxwell Stronge. Aber »Sir« sagt Rosi nur, wenn er keine Manieren am Tisch zeigt. Dann lacht die Runde einmal herzlich, und man spürt da zumindest latent das Gefühl, eine Grenze überschritten zu haben. Dann liest man einen Rudolf-Steiner-Meditationsspruch und dankt für das Mahl. James steht auf und wartet mit dem Handtuch in der Hand auf den gemeinsamen Abwasch. Wenn es zu viel für ihn war am Tisch, dann wippt er nervös auf den Zehenspitzen und läuft im Kreis um den Küchentisch.
Viele der Behinderten, die hier Villager (Dörfler) heißen, glaubt Roberta, die zweite »Mutter« im Haus, hätten schlechtes Karma mitgebracht. Das drücke sich nun auch in ihren physischen Leibern aus. Vor allem Allan. Der müsse Henker gewesen sein. Anders ließen sich die vergnügte Mimik beim Blättern im The Guardian nicht erklären. Die Irak-Berichte werden herausgeschnitten. Zumindest die Co-Worker dürfen nach dem unzensierten Blatt fragen. Abends. Damit es keiner merkt.
Was wirklich eindringt in James’ Welt, weiß niemand. Am 21. Januar 1981 explodierte die Bombe, die seine Familie in die Schlagzeilen brachte und seine Schwester ins englische Exil. Fünf bewaffnete IRA-Männer sprengten das Tor zur Residenz der Stronges, dem alten Tynan Abbey. Sie stürmten die Villa, erschossen seinen Onkel Norman und dessen Sohn. Beim Dinner wurden sie durchlöchert. Einfach so. James senior war einst Sprecher des nordirischen Stormont-Parlamentes.
Die Autoaggressionen, sagt Rosi stolz, als ich ihr in den Garten folge und nach James frage, habe sie ihm abgewöhnt, seit sie Verantwortung im Haus habe. Er brauche halt Führung. Ich schaue von außen in das Küchenfenster. Jetzt sitzt er in der Küche und malt. Malt Menschen ohne Körper auf einer Wolke, die ein Schiff sein soll. Er liebt das Malen. Die Vögel zwitschern zu hören, das mache ihn glücklich. Schreit er, ruft Rosi über die Schulter: »Sei nicht so nervös.« Die Tischdecke ist übersät mit Stiftabdrücken. James ist energisch bei dem, was er tut. Draußen scheint die Sonne über den grünen Hügeln und Wiesen. Der Himmel ist wolkenlos blau. James liebt die Natur, liebt den Ausgang. Er ist auch der einzige im Haus, der noch einer »Arbeit« nachgeht. Er arbeitet in der Weberei. Halbtags. Nachmittags liegt er im Bett und schreibt Karten an seine Schwester in England. Er brauche Ruhe, sagt Rosi, setzt die Linsensuppe auf und greift zum Schälchen mit dem Hirsebrei vom Frühstück. James hat jetzt wieder ein Problem. Er sagt immer »Yes, Rosi, yes«. Und so bekommt er nun den restlichen Brei neben sein Kunstwerk auf die Plastikdecke gestellt. Sein Gesicht wirkt angespannt. Er kneift seine Augen zusammen. Er haßt Hirsebrei. Ohne Salz und ohne Milch. Nur mit Wasser. Sein Magen ist sensibel. »Sei nicht so nervös, James«, ruft Rosi. Man merkt, sie liebt ihn. Irgendwo, tief hinter ihrer anthroposopischen Kruste. Seit zwei Jahrzehnten lebt sie mit Behinderten in einem Haus. Sie hat auch keine Lust mehr, sagt sie manchmal – ganz leise und traurig.
Ein Lamm wolle er sein, wenn er ein Tier wäre, erzählt James mir bei dem am Sonntag gestatteten Spaziergang. Er freut sich auf den Frühling. Dann geht er wieder zu seiner Schwester nach England. Kann »in der Sonne sitzen, singen, lachen und einmal mal faul sein«. Und Camphill für zwei Wochen vergessen.