von Hermann-Peter Eberlein
Um weiteren Missetaten vorzubeugen, haben wir die unerfreuliche Pflicht auf uns genommen, diese Herrschaften« – gemeint sind »Abweichler« jeder Art – »zu erschießen.« Stalin hat diesen Satz gesagt, ausgerechnet zu Romain Rolland, im Juni 1935. Eine, die dieser Großen Säuberung zum Opfer gefallen ist, vor nunmehr fünfundsechzig Jahren, ist die Schauspielerin Carola Neher.
Am 25. Juni 1936 wird sie in Moskau verhaftet – wie einen Monat zuvor ihr Mann Anatol Becker. Im Juli 1937 verurteilt sie ein Militärtribunal wegen »trotzkistischer Spionage« zu zehn Jahren Arbeitslager – Becker wird gefoltert und hingerichtet. Während sechs Jahren Haft durchläuft Neher fünf Gefängnisse. Mitgefangene beschreiben sie trotz Hunger, Schmutz und geschorener Haare noch immer als große Schönheit. Ihre Stimmung schwankt zwischen Optimismus und dem Bewußtsein, verloren zu sein. Im März 1941 schreibt sie einen ergreifenden Brief an das Kinderheim, in dem sie bei ihrer Verhaftung ihren damals anderthalbjährigen Sohn hatte abliefern müssen: »Was macht er? Lernt er schon lesen und schreiben? … Ob er sich wohl noch an seine Mutter erinnert? Ich möchte Sie bitten, mir ein Foto von ihm aus letzter Zeit zu schicken. Ob er wohl musikalisch ist? Zeichnet er auch? Wenn ja, dann schicken Sie mir doch bitte eine Zeichnung von ihm! Ich warte ungeduldig auf Ihre Antwort und hoffe, daß ich selbst bald alles Erdenkliche für mein geliebtes Kind werde tun können …«
Am 26. Juni 1942 stirbt Carola Neher im Gefängnis von Sol-Ilzek an der Grenze zu Kasachstan an Typhus. Ihr Grab ist unbekannt. Der Sohn, noch zu Lebzeiten seiner Mutter von einer sadistischen Russin adoptiert, wird erst als Vierzigjähriger aus der Sowjetunion ausreisen können.
Nicht nur das Ende der Carola Neher ist tragisch. Sie war eine der größten Schauspielerinnen ihrer Zeit und ist doch heute fast nur als Frau Klabunds und Geliebte Brechts in Erinnerung. Dabei war sie auch Dichterin und politisch engagiert. Sie hätte die erste Polly der Dreigroschenoper werden sollen. Daß sie nicht Brechts Frau wurde, war vielleicht nur Zufall.
Als Tochter eines Musikers wird Carola Neher am 2. November 1900 in München geboren. Sie besucht eine Klosterschule und arbeitet als Bankangestellte. Doch sie will Schauspielerin werden, nimmt heimlich Stunden und erhält im Sommer 1920 die Chance, am Kurtheater in Baden-Baden einzuspringen. Kurze Vertretungen führen sie nach Darmstadt und Nürnberg, dann zurück nach München an die Kammerspiele. In der Straßenbahn fixiert sie ein eleganter, charmanter, zartgliedriger Herr Anfang Dreißig: Alfred Henschke alias Klabund, als Lyriker und Dramatiker bereits bekannt, provozierend, tuberkulös, ein erotischer Draufgänger par excellence. Doch diesmal ist er gefangen: Als Neher 1924 nach Breslau engagiert wird, folgt er ihr und heiratet sie ein Jahr später. Im selben Jahr feiert die junge Schauspielerin in seinem Kreidekreis ihren ersten großen Triumph. 1926 geht sie nach Berlin, wo sie Bert Brecht kennenlernt. Klabund verbringt jetzt viel Zeit in Davos, doch sein Zustand verschlechtert sich rapide. Im Sommer 1926 probt Carola gerade für die Premiere der Dreigroschenoper, als sie an das Krankenbett ihres Mannes gerufen wird. Wenig später stirbt der Dichter, der so verliebt war in die Liebe, das Schreiben und das Lesen.
Die erste Polly ist sie also nicht geworden – wohl aber die erste Johanna der Schlachthöfe und die Film-Polly von 1931. Auch in Ödön von Horváths Geschichten aus dem Wienerwald brilliert sie und in Brechts Happy End. Das gibt es mit ihm privat freilich nicht: Am 10. April 1929 heiratet Brecht Helene Weigel; noch vom Standesamt aus eilt er zum Bahnhof, um seine Geliebte zu empfangen, einen Blumenstrauß in der Hand. Die Heirat habe nichts zu bedeuten, erklärt er Carola, doch die wirft ihm die Blumen vor die Füße und läßt ihn stehen …
Im Jahr 1932, nach einer kurzen Affäre mit dem Dirigenten Hermann Scherchen, heiratet Neher den aus Bessarabien stammenden Ingenieur Becker. Rechtzeitig vor der Machtübernahme emigrieren die beiden über Wien nach Prag, schließlich in die Sowjetunion, die viele linke und selbst liberale Intellektuelle und Antifaschisten immer noch fasziniert. Allein hier scheint die Einheit von Geist und Macht noch möglich zu sein – ein Trugschluß, den nicht nur Neher mit dem Leben bezahlen muß. Die KPD-Anhängerin unterschreibt Aufrufe gegen Hitler; Ende 1934 wird sie daraufhin ausgebürgert. Als Regieassistentin und Schauspiellehrerin hält sie sich mühsam über Wasser; als Brecht und Piscator 1935 Moskau besuchen, rezitiert sie Brechts Gedichte.
Auch über sie hat er eines geschrieben – aber als sie ihn gebraucht hätte, hat er sie im Stich gelassen – vermutlich, weil Stalin seine Zeitschrift Das Wort finanziert. Kein Versuch, für ihre Freilassung zu wirken, das eigene internationale Renommee in die Waagschale zu werfen, hinter den Kulissen zu intervenieren. Nur bei Lion Feuchtwanger, der 1937 Stalin besucht, fragt Brecht vorsichtig nach: Die Frau, die seine Arbeits- und Bettgenossin war, bezeichnet er dabei gerade einmal als »nicht wertlosen Menschen«. Ob er den Brief überhaupt je abgeschickt hat, ist zweifelhaft. Feuchtwanger jedenfalls unternimmt nichts, ja erweist dem Diktator geradezu peinlich seine Reverenz. Und auch die anderen alle schweigen: die Brüder Mann, Arnold Zweig, die Pariser Tageszeitung, die Prager Weltbühne …
Die Sowjetunion bereinigt ihre Geschichte anderthalb Jahrzehnte später auf ihre Weise: »Die Angelegenheit der Henschke, Karoline, verhaftet am 25. Juni 1936, ist vom … Militärkollegium am 13. August 1959 erneut verhandelt worden. Das Urteil des Militärkollegiums vom 16. Juli 1937 ist nach neu entdeckten Umständen aufgehoben worden. Die Angelegenheit ist abgeschlossen wegen der Nicht-Existenz des Verbrechens.«
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