Des Blättchens 10. Jahrgang (X) Berlin, 14. Mai 2007, Heft 10

Peter Sylvester

von Andreas Reimann

Am 4. April, einen Monat nach seinem siebzigsten Geburtstag, ist in Leipzig der Grafiker und Maler Peter Sylvester plötzlich und vorahnungslos gestorben. Der Tod hat ihm das Werkzeug aus der Hand genommen, doch vielleicht mag für die trauernden Freunde des Künstlers eine Andeutung von Trost darin liegen, daß es ihm, dem eher nobel zurückhaltenden Mann, immerhin durchaus bewußt war, mit seinen Bildern Bleibendes geschaffen zu haben.
Und keineswegs nur dadurch, weil speziell seine Aquatinta-Radierungen mit einer handwerklichen Perfektion und Raffinesse ausgeführt sind, die ihn gelegentlich anblicks der bildnerischen Hervorbringungen jüngerer Kollegen selbstbewußt und sanft ironisch über deren Machart lächeln ließ: Vor allem deshalb, weil er in seinen visionären kosmischen Landschaften gleichwie den Darstellungen der Umweltbedrohung durch die Industrie eben doch nicht in pessimistischem Welt-Zweifel den Untergang der Natur vorausgemalt hat, wie es ihm in der DDR des öfteren vorgeworfen wurde, sondern weil er über dreißig Jahre lang den Mut und die Kraft aufbrachte, die frühzeitig erkannte existentielle Gefährdung in das große Thema »Stirb und werde!« einzuordnen.
Selbstverständlich – also aus ihrem Selbstverständnis heraus – wären die sich in der DDR für Kunst zuständig fühlenden Funktionäre außer sich geraten, wenn er die Drecklöcher bei Borna und Bitterfeld naturalistisch ins Bild gesetzt hätte. Da er aber eben diese Zerstörung der Umwelt weitsichtig als ein globales Problem darstellte, erkannten die im Verdrängen jeglichen Unrechtsbewußtseins geübten Täter nicht im geringsten, daß sie der Maler eigentlich der Beteiligung an einem Komplott sämtlicher Industriestaaten gegen die Natur bezichtigte. Statt dessen wimmelt es allerdings in seiner schmalen Stasiakte von Begriffen wie »abstrakt« und »formalistisch«, und so ist es nicht verwunderlich, daß seine Werke öffentlich nicht eben besonders herausgestellt wurden, obwohl neben etlichen Privatsammlern auch zahlreiche Museen des In- und Auslands seine prägnanten Arbeiten erwarben. Eine solche Form der »heimlichen Anerkennung«, zu der auch die Möglichkeit des Reisens in Klassenfeinds Lande gehörte, hatte den Preis, daß die offizielle Kunstkritik sich ebenfalls an die unausgesprochene Verschweigeverpflichtung hielt.
Und damit war der Betroffene auch für den schon damals weniger Kunst- als Skandalsüchtigen westlichen Schnickschnack-Markt ziemlich uninteressant. Man sollte sich übrigens in diesem Zusammenhang doch einmal die Liste der ehemals öffentlich Geschmähten, folglich also öffentlich publik gemachten Personen genauer ansehen: Es handelte sich bei ihnen nämlich fast ausnahmslos um abtrünnig oder wankelmütig gewordene Genossen der alleinseligmachenden Partei; und so blieben die von Anfang an dem Rummel Ferngebliebenen, sobald sie in Ungnade gefallen waren, zugleich auch nahezu namenlos, denn so groß war der Entdeckerdrang der westlichen Journalisten denn doch nicht, als daß sie eigenständig in der DDR nach selbstständig Denkenden recherchiert hätten.
Und nach dem Zusammenschmiß? Es scheint immer noch so, als betrachte man die Werke all jener, die nicht vor dem real nicht existierenden Sozialismus Reißaus genommen haben, automatisch als »systemtreu«, ergo als »künstlerisch wertlos«. Und einer wie Peter Sylvester, der zu lauter war, um sich im nachhinein künstlich zum Widerstandskämpfer aufzublähen, litt unter dieser Ignoranz gegenüber seinen vielseitigen Bemühungen, denn das Wissen um die Gültigkeit des Werkes ist vielleicht viel, aber für den Lebendigen eben doch entschieden zu wenig: Ein jeder, der einen Apfelbaum setzt, kann sich ziemlich sicher sein, daß noch die Enkel von dessen Früchte ernten werden; aber er selber wollte doch, bitte schön, auch schon etwas Obst pflücken! Aber dies blieb jenen, die in der DDR-Kunst weder Propaganda noch Anti-Propaganda gemacht haben, großteils verwehrt, und ihre Hoffnungen auf eine angemessene Beachtung ihres Schaffens in der Gegenwart haben sich bislang nicht erfüllt.
Denn so es stimmt, daß nunmehr »der Markt alles regelt«, so stimmt es doch ebenfalls, daß eben dieser Markt auch selbst ein Produkt ist, das gemacht wird: In der bildenden Kunst funktioniert die »Neue Leipziger Schule« als verkaufsträchtiges Phänomen eben nur, wenn man die (alte) »Leipziger Schule« auf drei große, schon vorwendlich im Westen gehandelte Namen reduziert.
Denn würde man allein die bislang nicht beachtete Vielzahl der Leipziger Künstler präsentieren, nähmen sich die neu hinzugekommenen vielleicht nicht mehr ganz so exotisch aus; und die Kunstwissenschaft müßte sich eventuell doch mal die Frage stellen lassen, ob der deutsche Anteil an der bildenden Kunst der Gegenwart wirklich nur in der ehemaligen BRD zustandegekommen ist. Nur: Wo kann man denn die damals und heute entstandenen Werke zu Gesicht bekommen?
Zum Beispiel hatten jene Grafiker, die 1972 die Leipziger Graphikbörse ins Leben riefen (zu deren Mitbegründern Peter Sylvester gehörte und deren Präsident er ab 1991 gewesen ist), zunächst erwartet, daß mit der Eröffnung der Kunsthalle der Sparkasse Leipzig die ewige Suche nach einem Domizil für ihre alle zwei Jahre stattfindende Ausstellung ein Ende hätte … Die Sparkasse Leipzig aber sammelt löblicherweise Kunst; sie stellt ihre Räumlichkeiten aber nicht für verkaufende Künstler zur Verfügung. Und das großklotzige, großkotzige neue Leipziger Bildermuseum? Die Werke Leipziger Künstler, die nicht gnädigerweise im Kellergeschoß des monströses Bauwerks aufgehängt wurden, lagern im Depot. Unter ihnen einige Werke Peter Sylvesters, zu dessen siebzigsten Geburtstag sich übrigens neben den in dieser Stadt erscheinenden Magazinen und Kunstzeitschriften auch die einzige – von ehemals fünf – hinterbliebene lokale Tageszeitung, die Leipziger Volkszeitung, in rücksichtsvolles Schweigen hüllte. Sie hat ihm allerdings einen einspaltigen Nachruf gewidmet.
Mein Freund, der Grafiker und Maler Peter Sylvester, ist tot. Er hatte einen Apfelbaum gepflanzt, und wir werden die Früchte pflücken. Es wäre besser gewesen, er wäre weniger hungrig gestorben.