Des Blättchens 10. Jahrgang (X) Berlin, 14. Mai 2007, Heft 10

Gläubiges Rätselraten

von Heerke Hummel

Drei Tage lang begeisterten sich mehrere hundert Sozialisten während einer bundesweiten Konferenz in Berlin an dem Gedanken, daß die totgesagten Ideen ihres großen Lehrmeisters Karl Marx wie Phönix aus der Asche des Realsozialismus auferstehen. Marxismus für das 21. Jahrhundert lautete das Aktualität ankündigende Thema. Doch die Vorträge – so wenigstens der subjektive Eindruck auf der Grundlage einer notwendigerweise stichprobenartigen Auswahl – wurden heutigen Ansprüchen bestenfalls teilweise gerecht. Zu oft noch fühlte sich der DDR-erfahrene Beobachter an die Vorwendezeit erinnert, war doch der Beifall der meist Überfünfzigjährigen aus dem Auditorium um so stärker, je kämpferischer die Vortragenden auftraten.
Der neuerstandene Kampfeswille war beeindruckend, doch wenn man abends nach getaner Denkarbeit wieder in der Alltagswelt mit ihren Alltagsmenschen ankam, sich auf der Heimfahrt in der U-Bahn umschaute oder daheim die erstbeste Talkshow auf dem Bildschirm hatte, mochte man sich schon fragen: Mit denen wollt ihr euren Sozialismus gestalten?
Und was soll diesen Sozialismus ausmachen, von dem da immer noch oder schon wieder die Rede ist? Eine »gerechte« Welt ohne Ausbeutung, ohne Krieg? Vergessen die Kämpfe an der sowjetisch-chinesischen Grenze in den sechziger Jahren und das sowjetische Desaster in Afghanistan, die Sucht der großen Mehrheit des Volks der DDR sowie der Osteuropäer nach kapitalistischer Ausbeutung durch Befreiung vom Volkseigentum, das man verschenkte?
Nein, beim nächsten Mal solle es demokratisch zugehen. Da war denn wenigstens Uwe-Jens Heuer beeindruckend offen, ehrlich und desillusionierend mit seiner Meinung – die er vor achtzehn Jahren so öffentlich nicht hätte äußern können –, daß es nämlich Demokratie, also tatsächliche Volksherrschaft niemals geben werde, weil Politiker egal welcher Partei und in welcher Gesellschaft auch immer – letztlich gewaltsam – ihre Macht sichern und ausüben müßten, denn das sei ihr gesellschaftlicher Auftrag. Es könne daher immer nur um Demokratisierung (heute Redemokratisierung) der gesellschaftlichen Verhältnisse, also um eine beständige Auseinandersetzung zwischen Volk und Staatsmacht – um mehr Rechte, Mitsprache und Anteil am gesellschaftlichen Reichtum – gehen. Und wann das sozialistisch sei und ob es überhaupt einmal Sozialismus geben werde, könne man heute nicht wissen, so Heuer, sondern nur glauben. Er glaube daran, und er scheute nicht den Vergleich mit dem Christentum, das aus dem Glauben schon sehr viel Kraft geschöpft habe.
Für einen im Osten Ausgebildeten besonders interessante, weil ungewohnte Sichtweisen und neues, anderes, Wissen vermittelnde Beiträge kamen von »West-Marxisten« – überhaupt schienen viele Interessierte aus den alten Bundesländern angereist zu sein –, beispielsweise von Joachim Bischoff (Redaktion Sozialismus, Hamburg) und Conrad Schuhler (Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung, München) in ihrer Auseinandersetzung über die Frage, ob und welche Rolle das Denken von John Maynard Keynes bei der Überwindung der Krise der heutigen Gesellschaft spielen könne. Da erhielt die Debatte größeren theoretischen Tiefgang. Die Frage, was denn nun der künftige Sozialismus sei und wie er erreicht werden solle, wurde dennoch nicht beantwortet – was natürlich zu erwarten war. Die Genügsamkeit von Joachim Bischoff, das Augenmerk auf die Bekämpfung der schlimmsten Gebrechen der heutigen Gesellschaft zu legen, stieß gerade bei konservativ-sozialistisch Denkenden, die auf ihre nebulösen Sozialismuserwartungen bestehen, auf wenig Verständnis. Aus deren Sicht dürfte die ganze Veranstaltung ein gläubiges Rätselraten gewesen sein.
Aber ist diese messianische Erwartung eines Sozialismus, von dem jeder seine eigene Vorstellung hat, überhaupt real? Ein Skript (Gespenster von heute), ausgelegt an einem der vielen Stände, beinhaltete einen Denkansatz, der nicht antimarxistisch, nicht gegen Marx gerichtet ist, aber kritisch danach fragt, was sich in der Welt seit Marx’ Zeiten verändert habe und was diese Veränderungen für die Gesellschaftsanalysen von Karl Marx bedeuteten – nachzulesen in Sozialismus, Heft 5/2007. Darin werden die beiden für verschiedene Gesellschaftssysteme gehaltenen Erscheinungen – am Beispiel Chinas und der westlichen Welt – auf lediglich unterschiedliche, historisch bedingte Organisations- und Leitungsweisen gesellschaftlicher, insbesondere ökonomischer Entwicklung reduziert. Geworben wird für eine neue Aufklärung, mit der die Gesellschaft aus den Fesseln ihres Denkens, Wollens und Handelns geistig zu befreien wäre, die als Gespenster sowohl des Sozialismus als auch des Kapitalismus in den Köpfen der Menschen geistern.
Die Logik solcher Überlegungen wurde während der Konferenz in einem Diskussionsbeitrag – vorgetragen vermutlich von einem früheren Mitarbeiter einer DDR-Planungsbehörde – offenbar, in dem darauf hingewiesen wurde, daß die von der Sowjetunion in den sechziger Jahren unterbundenen ökonomischen Reformbestrebungen im Falle ihrer Fortsetzung dazu geführt hätten, daß etwa ein Drittel der DDR-Betriebe in Konkurs gegangen wäre – mit allen sozialen Folgen wie Arbeitslosigkeit und so weiter. Worin, ist daher zu fragen, hätte dann aber der Unterschied zwischen DDR und BRD beziehungsweise zwischen »Sozialismus« und »Kapitalismus« bestanden? Worin bestand er wirklich?