von Hermann-Peter Eberlein
München leuchtete – so hat Thomas Mann die kurzen goldenen Jahre zusammengefaßt, in denen die Isarmetropole ein Laboratorium der literarischen und künstlerischen Avantgarde war, Wien und Paris ebenbürtig. Zentrum der Münchner Moderne war die Schwabinger Bohème, zu der Männer wie Stefan George gehörten, Karl Wolfskehl und Ludwig Klages, zeitweise auch Erich Mühsam oder der Psychiater Otto Gross, ein früher Propagandist der freien Sexualität. Mittendrin eine Frau: die Gräfin Fanny Reventlow – Aussteigerin, Muse und Geliebte, Schriftstellerin, selbstbewußte Propagandistin der Selbstbestimmung der Frau. Von ihrer Familie verstoßen und dauernd in Geldnöten, hat sie sich und ihren Sohn mit Zeitungsartikeln und Übersetzungen am Leben erhalten, durch Kunsthandwerk und Prostitution; ihre Romane spiegeln die eigene Lebenssituation (Der Geldkomplex, 1916) oder verschaffen uns Einblick in die faszinierende Welt Schwabings (Herrn Dames Aufzeichnungen aus einem merkwürdigen Stadtteil, 1913).
Eine ganz ungeschminkte Innensicht auf den merkwürdigen Stadtteil und die Lust und Verzweiflung am eigenen Leben gewähren auch Reventlows Tagebücher, die nun in einer historisch-kritischen Ausgabe vorliegen, und der Briefwechsel mit ihrem Liebhaber Bohdan von Suchocki aus den Jahren 1903 bis 1909. Feste und Eros spiegeln sich da, Krankheiten und Sucht, die literarische Fron (Lieber auf die Straßen oder was es sonst noch giebt, nur das nicht mehr) – und immer wieder der Alltag mit dem kleinen Sohn, dem eigentlichen Mittelpunkt ihres Lebens. Introspektion (Hätt ich doch nur ein dickeres Fell, aber es ist schlimm bestellt mit dem meinen, zuviel verletzbare Stellen) angesichts eines ekstatischen, rauschhaften Lebens – freilich präsentiert in Gelehrtenmanier: buchstabengetreu nach dem Manuskript, die durch Striche gekennzeichneten Streichungen inbegriffen.
Doch so wichtig die philologische Akribie sein mag: Genießbar, vergnüglich zu lesen ist das nicht. Ich hätte mir eine genauso vollständige und gut kommentierte, orthographisch geglättete Ausgabe gewünscht – die wenigen Spezialisten hätten vielleicht weiterhin die Autographen zur Hand nehmen können.
»Wir sehen uns ins Auge, das Leben und ich«. Franziska Gräfin zu Reventlow: Tagebücher 1895-1910, herausgegeben von I. Weiser und J. Gutsch, Verlag Karl Stutz Passau 2006, 584 Seiten, 44 Euro; »Wir üben uns jetzt wie Esel schreien …«. Franziska Gräfin zu Reventlow, Bohdan von Suchocki: Briefwechsel 1903-1909, herausgegeben von I. Weiser, D. Seydel und J. Gutsch, Verlag Karl Stutz Passau 2004, 320 Seiten, 24 Euro
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