Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 16. April 2007, Heft 8

Polen ziert sich

von Martin Behrens

Um Verkehrsregeln kümmert sich hier keiner«, lacht Maciej und navigiert den blauen Volvo gekonnt durch die allmorgendlich kurz vor dem Verkehrsinfarkt stehende Oder-Metropole Szczecin an der deutsch-polnischen Grenze. Blechlawinen quälen sich durch die holprigen Straßen. Das nervöse Klingeln einer eingekeilten Straßenbahn am »Plac Rodła« geht fast unter im Hupkonzert. Schwarzer Rauch qualmt aus dem Auspuff eines rostigen Linienbusses auf die Windschutzscheibe eines schikken BMW. An der Haltestelle spielt ein alter Mann auf dem Akkordeon unbeirrt gegen den Großstadtlärm an. Im Radio sprechen sie über Klimaschutz. Maciej zuckt mit den Schultern.
Das zerfurchte Gesicht des Akkordeonspielers auf der anderen Seite der mit Regentropfen besetzten Fensterscheibe versprüht Schwermut. »Das neue Polen kümmert sich nicht um die, die zurückbleiben«, sagt Maciej. Seit im Herbst 2005 die rechtskonservative Regierung angetreten sei, spüre er ein kälter werdendes soziales Klima.
Fetzen pathetisch-melancholischer Chansons von Edith Piaf fliegen durch die kalte Februarluft, dann wieder Hupen. »Délivrez-nous, nos frères!« Eilende Menschenmassen passieren den Straßenmusiker ohne Notiz zu nehmen. Ein Junge mit orangenem Regencape wirft die Gratis-Zeitung Metro durchs Fenster. Am Straßenrand kontrastieren zahlreiche Werbebanner vor den baufälligen Fassaden. Besonders Sprachschulen kämpfen um den immer weiter anwachsenden Kundenkreis auswanderungswilliger Polen. Je farbiger desto besser. Dazwischen Handyanbieter, Banken, Shopping-Malls. Arbeitsvermittler locken nach Irland und Deutschland. »Wir sind doch fast wieder bei 1830: die große Emigration.«
Die Regierung kann sie kaum stoppen. Der durchschnittliche Bruttolohn liegt bei 550 Euro. Die polnische Diaspora, außerhalb Polens lebende Staatsangehörige, zählt etwa zwölf Millionen Personen. »Ich bin Patriot. Ich bleibe und hoffe. Hoffe auf Europa«, sagt Maciej, der gerade – auch mit EU-Mitteln – ein Fortbildungsseminar für Informatiker aufbaut.
Trotz der Abwanderung der jungen Intelligencja boomt die polnische Wirtschaft, sichtbar auch in Szczecin. Immer mehr gläserne Geschäftshäuser schießen zwischen maroden Altbauten aus dem Boden. Auch wenn mittelfristig mit einem leichten Knick zu rechnen sei, glauben einer Umfrage zufolge vierzig Prozent der europäischen Top-Manager, daß Polen langfristig das am stärksten wachsende Land der EU sein werde. Jede dritte Firma in Warschau meldet permanenten Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften. 2006 stieg das Wirtschaftswachstum auf knapp sechs Prozent; ausländische Firmen investierten einen Rekordbetrag von 14,7 Milliarden Dollar. Viel Geld fließt auch aus Brüssel; mehr als vier Milliarden Euro seit dem EU-Beitritt im Mai 2004 allein in die Kassen polnischer Gemeinden.
Polens Verhältnis zur Europäischen Union ist schwierig, die Skepsis ist groß. Eine Umfrage für die Polityka ergab im Februar, daß nur 44 Prozent den Euro wollen – 52 Prozent der unter Fünfunddreißigjährigen allerdings bejaht ihn. Regierungsberater Marek Zuber spricht von der »Gefahr des Wegfalles der eigenständigen Finanzpolitik«, obgleich er die Gemeinschaftswährung begrüßt.
Für Irritationen sorgte unlängst das Pamphlet War of Civilisations in Europe, das der polnische EU-Parlamentarier Maciej Giertych (LPR) in Brüssel veröffentlichte. Giertychs Sohn Roman, Vorsitzender der LPR, ist polnischer Bildungsminister. In seinem Werk versucht Maciej, symptomatisch für einen wachsenden Antisemitismus im Land, zu argumentieren, daß in Europa nur für eine Zivilisation Platz sei. Juden seien dort Fremdkörper. Sie hätten ein »eingebautes Sektierertum«. Es sei ihr eigener Wunsch, in Ghettos zu leben. Lediglich »Hitler-Deutschland hat das Konzept der gezwungenen Separation entwickelt«, so der Biologie-Professor. Zudem hätten Juden die Tendenz, von »ärmeren in reichere Zivilisationen« zu migrieren. Ihr Sektierertum habe »die Entwicklung biologischer Unterschiede zur Folge«. Alles in allem seien sie eine »tragische Gemeinschaft«, die es verpaßt habe, Jesus als Messias anzuerkennen. Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering (CDU) sagte, er sei »tief beunruhigt« und leitete eine Untersuchung ein.
Entgegen der Rhetorik des offiziellen Warschaus setzen viele Polen große Hoffnungen auf Europa. »Wir sollten den Euro so schnell wie möglich einführen«, forderte der polnische Arbeitgeberchef Jeremi Moradsiewicz. Polen erfüllt derzeit drei von vier Konvergenzkriterien, die für den Beitritt zur Eurozone nötig sind: Inflationsrate und Zinssatz liegen unter der Höchstgrenze. Auch die Staatsverschuldung fällt nicht aus dem Rahmen. Nur das Haushaltsdefizit ist immer noch zu hoch. Moradsiewicz riet, das aktuelle Wirtschaftswachstum zu nutzen, um die Staatsfinanzen zu sanieren. Das forderte auch die Europäische Kommission in einer neuen Empfehlung.
Doch in Warschau hat man wenig Eile den Weg zum Euro zu ebnen. Obgleich sich das Land 2004 vertraglich verpflichtet hat, bei Erfüllung aller Stabilitätskriterien unverzüglich der Währungsgemeinschaft beizutreten, zieht man die Handbremse an. Polen dürfe die Stabilität des Złoty nicht durch einen schnellen Beitritt in den »Euroklub« gefährden, so Kaczyński. »Das sind wir unserem Export schuldig.« Die Übernahme sei erst sinnvoll, »wenn wir etwa das mittlere wirtschaftliche Niveau der EU erreicht haben«, so der Premier. Immer wieder malt er »massive Preiserhöhungen« als Gefahr an die Wand. Bis 2009 will er das Haushaltsdefizit auf 2,9 Prozent senken, was den Stabilitätskriterien entsprechen würde. Ein Jahr darauf werde es dann entgegen der Vertragsbestimmung ein Referendum zum Euro geben. 2012 oder 2013 werde man den Euro einführen können, prognostizierte Zentralbankchef Slawomir Skrzypek im Magazin Wprost. EU-Finanzkommissar Joaquin Almunia allerdings meldete Zweifel am polnischen Fahrplan an.