Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 16. April 2007, Heft 8

Gelehrte Narren

von Klaus Hansen

Über kurz oder lang. Der Psychologe David Sparks war ein kleiner Mann von einsfünfundsechzig, lebte aber dank Schuhgröße 45 auf sichtbar großem Fuß. Sein Kollege Jason Philipps hingegen maß fast zwei Meter und begnügte sich mit der bei dieser Länge zierlich zu nennenden Schuhgröße 39. Beide Forscher führten über Jahre hinweg eine verbissene wissenschaftliche Auseinandersetzung, die sie persönlich entzweite und zu feindseligen Streithähnen machte.
Sparks vertrat die auf der Basis von zwölf Versuchspersonen empirisch gewonnene These von der signifikant positiven Korrelation zwischen der Schuhgröße eines Mannes und seiner Penislänge: je größer desto länger. Laut Kollege Philipps hingegen, der sich auf 22 Probanden berief, lasse allein die Körpergröße eines Mannes Rückschlüsse auf seinen Penis zu, während die Fuß- respektive Schuhgröße diesbezüglich keinerlei Aussagekraft habe.
Damit am altehrwürdigen Columbia College, an dem beide lehrten, der innere Frieden wieder einkehre, berief Dekan Danny Schweif (Daten unbekannt) den Soziobiologen Richard Waterfield – ein Meter achtzig, Schuhgröße 43 – zum Streitschlichter. Waterfield fand mit Hilfe von 43 Testpersonen heraus, daß größere Männer in der Regel auch größere Penisse haben als kleinere Männer. Da größere Männer in der Regel aber auch größere Füße haben als kleinere Männer, könne man durchaus feststellen, daß überdurchschnittlich oft Männer mit großen Füßen auch einen längeren Penis besitzen.
Damit war beiden Streithähnen gleichermaßen Genüge getan, so daß sie wieder hoch erhobenen Hauptes vor ihre Studenten treten konnten, jeder mit derselben Ausgabe der Quarterly Review of Urology unterm Arm, wo Waterfield seine inzwischen viel beachtete Studie veröffentlicht hatte.
Muhkuh. Am Institut für Linguistik der Universität zu Köln erforscht man auch die Sprache der Kühe. Privatdozent Doktor Franz, der wie kein zweiter die Kuh versteht, referiert im Freundeskreis den aktuellen Kenntnisstand. Ein Tier mit vollem Euter spricht anders als eine gemolkene Kuh. Hier ein langgezogenes »Muuuuuh«, dort ein knapp angebundenes »Muh«.
Einer der Freunde fühlt sich angeregt, eine persönliche Kantinenbeobachtung zum Besten zu geben: Vor dem Essen grüßen die Kollegen zackig mit »Mallzeit«, nach dem Essen mit einem trägen »Maaaahlzeit«. Die Runde lacht. Franz nicht. Er findet das gar nicht komisch. Sein Freund hat den Zusammenhang zwischen körperlicher Sättigung und verbalem Ausdruck wissenschaftlich korrekt durchschaut. Das an sich ist noch nicht verwerflich. »Kontraproduktiv« (so das Fachwort der Fachleute) aber ist es, daß er seine Erkenntnis gewonnen hat, ohne Planstellen, Versuchsanordnungen und Drittmittel-Gelder in Anspruch genommen zu haben. Wäre es nicht sein Freund gewesen, hätte Franz ihm jetzt Verrat an der Forschung vorgeworfen. Und seien wir ehrlich: Erkenntniserwerb, der nichts kostet, ist auch nichts wert!
Pipifax. Heinrich ist in öffentlichen Toiletten gerne allein. Stehen rechts und links noch weitere Gäste an der Rinne, stockt ihm oft das Wasser in der Leitung, obwohl die Notdurft groß ist. Geht es nur mir so, fragt Heinrich sich, stimmt etwas nicht mit mir? Bin ich verklemmt? Zum Glück hat sich die Wissenschaft jetzt seines Problems angenommen, Arbeitstitel: Harnlaßverhalten an öffentlichen Stehpissoirs als interpersonales Phänomen.
Feldforschungen auf Männertoiletten im Westen der USA haben den Beweis erbracht, daß zwischen Harnbeginn und zwischenmenschlicher Distanz ein enger Zusammenhang besteht. Man nehme einen gewöhnlichen Toilettenraum, der mit zehn Urinalen ausgestattet ist, die einen ständigen Wasserpegel von rund acht Zentimetern haben. Man plaziere am Waschbecken einen Beobachter, der äußerlich mit Händewaschen, Kämmen und Fingernagelreinigen beschäftigt scheint. Der Beobachter notiert bei jedem Benutzer, der den Raum betritt, das von ihm gewählte Urinal und den Abstand zum Nachbarn, der unter Forschern »Co-Pinkler« heißt.
Dann ermittelt und notiert er die Harnlaßverzögerung als die Zeit, die zwischen dem Öffnen des Hosenschlitzes und dem Beginn des Harnens liegt, der am Geräusch des auf das Pegelwasser treffenden Urinstrahls erkannt wird. Das Ergebnis: Von 48 erfaßten Versuchspersonen wählte keine ein direkt an den Co-Pinkler angrenzendes Urinal. 23 waren ein Urinal weit vom nächsten Besucher entfernt, 16 waren durch zwei Urinale getrennt und neun durch drei oder mehr Schüsseln. Diejenigen, die nur ein Becken entfernt standen, wiesen im Durchschnitt eine Harnlaßverzögerung von 7,9 Sekunden auf; bei Versuchspersonen, die zwei Urinale voneinander getrennt waren, lag der entsprechende Wert bei 5,9 Sekunden und bei denjenigen, wo der Abstand drei und mehr Urinale betrug, bei 4,7 Sekunden.
Wissenschaft, so hören wir oft, sei dazu da, den Menschen die Augen zu öffnen, nicht aber, sie glücklich zu machen. Daß beides auf wunderbare Weise zusammengehen kann, davon zeugt der vorliegende Fall. Denn Heinrich fühlte sich nach der Lektüre des Forschungsberichts wie befreit von der schweren Last eines nagenden Selbstzweifels. Harnlaßverzögerungen im Beisein fremder Artgenossen sind das Normalste von der Welt! Mit ihm ist folglich alles in Ordnung. Er ist ein Normalo, wie er im Buche steht!
Tiefenbohrung. Es gibt noch unendlich viele Gewohnheiten des Alltags, die unerforscht sind und darum dringend der wissenschaftlichen Aufklärung bedürfen, wollen wir nicht länger ahnungslos im Dunkeln tappen.
Das Thema Nasebohren gehörte bis vor kurzem dazu. Erfreulich, daß jetzt ein Anfang gemacht worden ist, ein »erster Anfang«, wie die Experten mit ihrem typischen Hang zur Doppelmopplung sagen, um uns alle auf die lange, forschungsintensive Wegstrecke einzustimmen, die nun vor uns liegt. Und am Anfang, das wissen selbst die bibelfernen Atheisten, steht das Wort. »Rhinotillexologie« heißt es in unserem Fall. Ein Kompositum aus drei griechischen Wörtern: rhino – die Nase; tillexis – die Gewohnheit des Bohrens; logie – die Lehre. »Rhinotillexologie« nennt sich die neue wissenschaftliche Lehre vom Nasebohren, deren ehrgeizige Vertreter gewiß zügig auf die Kassenzulassung hinarbeiten werden.
Eine erste empirische Studie unter dem Titel Juveniles Nasebohren – Formen, Dimensionen, Perversionen (HNO-Bulletin, 47. Jg. 2005, S. 376 ff.) kommt zu dem Resultat, daß die befragten zweihundert Jugendlichen durchschnittlich viermal täglich in der Nase bohren. Fünfzehn von ihnen kommen auf eine Nasenbohrfrequenz von über zwanzig Mal pro Tag. 16,8 Prozent der Jugendlichen glauben, ein ernsthaftes Nasenbohrproblem zu haben, das die Forscher als »Rhinotillexomanie« erkannten und damit dem bereits üppigen Strauß der Neurosen eine weitere Blüte hinzufügten. 4,5 Prozent der Untersuchten zeigten die Angewohnheit, die Popel nach erfolgreicher Bergung aus dem Stollen direkt dem Mund zuzuführen und umgehend zu verspeisen. Dabei fiel auf, daß der Verzehrreiz der von Hause aus geschmacksneutralen Popel nach Masse und Konsistenz variiert.
65,1 Prozent der Probanden benutzten bei der Bohrtätigkeit den Zeige-finger; 20,2 Prozent den kleinen Finger und 11,4 Prozent den Daumen. Daß man mit zwei Fingern gleichzeitig in beiden Nasenlöchern bohrte, »Stereotillexis« genannt, ließ sich bei 3,3 Prozent der Untersuchten beobachten. Auffallend, daß sowohl der sogenannte Stinke- als auch der Ringfinger für das Nasebohren nicht in Frage kamen; hier wird man weiter nachforschen müssen, warum das so ist. Auffallend auch, daß es sich in ausnahmslos allen Fällen um die eigene Nase handelte, in der gebohrt wurde. Das übergriffige Bohren in anderleuts Nasen, die sogenannte »Hetero-Rhinotillexis«, ist bei uns unbekannt, soll aber in entlegenen Provinzen der Hinteren Mongolei eine freundliche Geste der Begrüßung unter Blutsverwandten sein.