Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 19. März 2007, Heft 6

Seidels Zeugenschaft

von Michael Reuter

Wie heute oft glauben gemacht wird, wollte der Rechtsstaat BRD mit dem Unrechtsstaat DDR nichts zu tun haben. Aus offensichtlich eben diesem Grunde war SED-Generalsekretär und DDR-Staatsratsvorsitzender Erich Honecker vom 7. bis 11. November 1987 in der BRD-Hauptstadt Bonn zu Gast geladen und traf dort und in anderen Städten nicht nur mit Bundeskanzler Helmut Kohl und Bundespräsident Richard von Weizsäcker zusammen, sondern auch in jeweils ausführlichen Einzelgesprächen mit dem Präsidenten des Bundestages Philipp Jenninger (CDU), den Ministerpräsidenten Johannes Rau (SPD), Bernhard Vogel (CDU), Lothar Späth (CDU), Oskar Lafontaine (SPD) und Franz Josef Strauß (CSU), den Fraktionsvorsitzenden im Bundestag Hans-Joachim Vogel (SPD), Alfred Dregger (CDU/CSU) und Wolfgang Mischnick (FDP), mit dem Ehrenvorsitzenden der SPD Willy Brandt, dem Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD), den SPD-Fraktionsvorsitzenden in den Landtagen von Niedersachsen, Gerhard Schröder, und Schleswig-Holstein, Björn Engholm, einer Abordnung der Grünen und dem DKP-Vorsitzenden Herbert Mies. Bei einem Treffen mit vierhundert führenden BRD-Wirtschaftsleuten gab es ein Gespräch mit DIHT-Präsident Otto Wolff von Amerongen, und wie das bei solcherart Besuchen nicht anders sein kann, fanden an diesen fünf Tagen auch zahlreiche Arbeitstreffen auf Ministerebene statt.
Über das lange Davor dieses Honecker-Besuches und das kurze Danach, von dem 1987 noch keiner der Akteure ahnte, daß es nur zwei Jahre dauern würde, hat jetzt noch einmal einer berichtet, der es sehr genau wissen muß: Karl Seidel, Jahrgang 1930, von 1970 bis 1990 Leiter der Abteilung BRD im DDR-Außenministerium. »Noch einmal« will sagen: Schon im Jahre 2002 hat Seidel das erste Mal Zeugnis abgelegt – mit seinem Buch Berlin-Bonner Balance, das seinerzeit bei edition ost erschienen ist. Das neue Buch nun heißt Nachtrag, ist im NORA Verlag herausgekommen, hat 400 Seiten, und eigentlich wollte Seidel damit nur dasjenige noch an Ergänzungen und Anmerkungen unter die Leute bringen, was damals Überhang geblieben war. Herausgekommen indes ist ein Band, der völlig eigenständig – und spannend! – zu lesen ist und bei jedem, der sich auch nur einigermaßen ernsthaft mit der Geschichte der DDR-BRD-Beziehungen befassen will, ins Bücherregal gehört.
Gut: Die Aufzählung der Honecker-Gesprächspartner, wie sie oben vorgenommen worden ist, fehlt in diesem Buch. Die Kenntnis darüber wird im ansonsten höchst informativen Kapitel über den BRD-Besuch vorausgesetzt. Aber ganz genau beschreibt Seidel die Monate danach. Zum Beispiel die – wie sich später herausstellen sollte: letzte – Begegnung Erich Honeckers mit Kanzleramtsminister Wolfgang Schäuble in Berlin im November 1988. Schäuble hatte dabei besonders die Fortschritte im Reise- und Besucherverkehr hervorgehoben – kann sich noch jemand vorstellen, daß es in den ersten neun Monaten des Jahres 1988 4,98 Millionen Reisen von DDR-Bürgern in die BRD und nach Westberlin gegeben hat und 1,2 Millionen davon Reisen unterhalb des Rentenalters waren? –, aber auch den Stromverbund, die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit, die kulturellen Beziehungen, die Städtepartnerschaften, den Jugendaustausch, die Verhandlungen über die Eisenbahnstrecke Berlin-Hannover. Kurz vor diesem Gespräch, am 5. Oktober 1988, war für den Zeitraum von 1990 bis 1999 eine jährliche Transitpauschale für den Verkehr zwischen der BRD und Westberlin in Höhe von 860 Millionen DM vereinbart worden.
Akribisch genau geht es auch in der Vorgeschichte zu. Das ist Seidels Feld und Seidels Vorteil. Er war – so beschreibt er es – Dienstleister, und er versucht auch jetzt nicht, mehr zu sein. Das ist stark, das ist integer. Keine Selbstüberhebung, nirgends. Das Buch ist dicht angefüllt mit Informationen und Daten. Kaum eine Begegnung offizieller Art, die Seidel nicht miterlebt oder zumindest mit vorbereitet hat, und keine Detailverhandlung auf Ministeriumsebene, die ihm entgangen sein könnte. Das beginnt mit den Begegnungen zwischen Ministerpräsident Willi Stoph und Bundeskanzler Willy Brandt in Erfurt und Kassel 1970 und führt über den »Verhandlungsmarathon« von November 1970 bis April 1974, in den auch der Abschluß des Grundlagenvertrages 1972 gehört, bis zu dem Treffen zwischen Erich Honecker und Bundeskanzler Helmut Schmidt am Werbellinsee im Dezember 1981, der Begegnung Honeckers mit Kohl in Moskau 1985, dem BRD-Besuch Honeckers 1987 und schließlich den Ereignissen im Sommer 1989.
Keine Selbstüberhebung heißt freilich nicht, aufs eigene Urteil zu verzichten, und so hat Seidel, der einst als Arbeiterkind in Potsdam-Babelsberg zum Studium der Außenpolitik angenommen worden war, immer auch die weltpolitischen Entwicklungen im Blick wie – natürlich – die Nachkriegssituation des Kalten Krieges, die von Nikita Chruschtschow 1958 ausgelöste Berlin-Krise, die Kubakrise 1962, den Moskauer Vertrag zwischen der BRD und der Sowjetunion 1970, die Viermächte-Verhandlungen über Berlin mit dem Abkommen von 1971 und die Wirkungen der Politik von Michail Gorbatschow.
Und die Urteile geraten streitbar und deftig. »Lag nicht der Keim«, fragt er eingangs, »des späteren Untergangs der DDR, ihr uneinholbarer Rückstand gegenüber der BRD schon in der sowjetischen Besatzungspolitik begründet?« Und er bilanziert: »Für die Deutschlandpolitik Stalins war die sowjetische Besatzungszone und spätere DDR noch nicht, wie in späteren Jahren, Teil des sowjetischen Sicherheitsglacis, sondern zunächst nur Ausbeutungsobjekt, während die USA-Besatzungspolitik spätestens ab 1946 (…) die Westzonen als antikommunistisches Bollwerk einkalkulierten.« Stalin glaubte, so handeln zu können, meint Seidel, weil er in aller Ernsthaftigkeit kein geteiltes Deutschland, sondern ein geeintes, aber unbedingt paktfreies wollte. Darum »die berühmte Stalinnote vom 10. März 1952 (…), die außer der Paktfreiheit keine weiteren Vorbedingungen für die deutsche Einheit stellte« – und darum die spaltende Wirkung, die die Ablehnung dieser Note durch Konrad Adenauer und die Westmächte in der Folgezeit entfaltete.
Einschub: Man zieht sich – wie das Beispiel der vor kurzem ernannten Berliner Staatssekretärin Almuth Nehring-Venus (Linkspartei.PDS) beweist – rasch den Zorn des Medienhauptstromes und durchaus nicht nur konservativer Politiker zu, wenn man solches erklärt: Daß es da auch eine Schuld des Westens an der Teilung gegeben haben könnte. »Geschichtsrelativierung« heißt der wohlfeile Knüppel, der da rasch aus dem Sack gesprungen kommt.
Aber auf so etwas nimmt Seidel glücklicherweise keine Rücksicht. Er sagt seine Meinung – zum immerwährenden Spannungsverhältnis DDR – Sowjetunion ebenso wie zum Konflikt zwischen Walter Ulbricht und Erich Honecker –, und er begründet sie ausführlich, indem er die Dokumente analysiert und sich auf anregende Weise mit den Positionen von Zeitgenossen wie Egon Bahr, Valentin Falin oder Julij Kwizinskij, Verhandlungspartnern wie Günter Gaus, Klaus Bölling oder Hans Otto Bräutigam und bemerkenswert vielen Autoren von nach der Wende erschienenen Publikationen zum BRD – DDR-Thema auseinandersetzt.
Ist Seidels »Nachtrag« Verklärung, Schönfärberei? Mitnichten. In einem Anhang äußert er »Bekenntnisse und Erkenntnisse«. Die sind selbstkritisch, immer wieder fragend und in sich ziemlich widersprüchlich. Anregung genug, den Dingen auf der Spur zu bleiben.

Karl Seidel: Nachtrag. Ergänzungen und Anmerkungen zu dem Buch »Berlin-Bonner Balance«. Erinnerungen eines Beteiligten an 20 Jahre Beziehungen zwischen der DDR und der BRD, NORA Verlag Berlin, 23,50 Euro