Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 19. März 2007, Heft 6

Kurt Hiller

von Hermann-Peter Eberlein

Heute gehört er zu den großen Vergessenen. Kaum jemand kennt und liest ihn mehr. Den Philosophen ist er zu literarisch, den Literaten zu philosophisch …« – die Rede ist von Kurt Hiller, dem Juden und Pazifisten, Anarchisten und aristokratischen Geist, Weltbühne-Autor und bekennenden Homosexuellen. Das Zitat stammt aus einem Beitrag der Schriften der Kurt-Hiller-Gesellschaft, die sich vorgenommen hat, besagtem Vergessen abzuhelfen. Endlich!
Kurt Hiller, der niemandem nach dem Munde redete, in dessen Werk sich widersprüchliche Züge kreuzen und der es seinen Zeitgenossen nie leicht gemacht hat, ist 1972 in Hamburg gestorben. Sein Nachlaß war dreißig Jahre unter Verschluß; nach dem Tode des Nachlaßverwalters Horst H. W. Müller hat ihn die 1998 gegründete Kurt-Hiller-Gesellschaft übernommen. Seither hat die Hiller-Forschung ein Forum in den Schriften, deren erste beide Bände 2001 und 2005 erschienen sind und deren dritter Band dieses Jahr herauskommen soll.
Wie nötig ein solches Forum ist, beweisen schon diejenigen Beiträge, die der Erschließung von Hillers Nachlaß dienen.
So hat sich Harald Lützenkirchen der ungeheuren Mühe unterzogen, die Frage Wo sind die Hiller-Briefe? zu beantworten. Mehr als zehntausend Briefe hat Hiller verfaßt, von kurzen Urlaubsgrüßen bis zu langen, gedankenreichen und programmatischen Texten. Zu seinen Korrespondenten gehörten Berühmtheiten wie Einstein und Freud oder Thomas, Heinrich und Klaus Mann, aber auch Politiker der Nachkriegszeit wie Gustav Heinemann, Willy Brandt und Helmut Schmidt. Fünf- bis sechstausend Briefe an Hiller, darunter solche von Tucholsky und Ossietzky, August Bebel oder Martin Buber, sind Hiller beim Einbruch von Nazi-Schergen in seine Wohnung 1933 gestohlen worden. Eine etwa gleich große Anzahl von Briefen von Hiller sowie etwa zweitausend an den Autor weist Lützenkirchen in einer langen Liste nach. Kurze Auszüge aus der Korrespondenz zwischen Hiller und dem Leipziger Literaturhistoriker Fritz Böttger aus den Jahren 1959 und 1972 hat Böttgers Sohn Till, heute Präsident der Kurt-Hiller-Gesellschaft, in beiden Bänden zur Kenntnis gegeben. Eine umfassende Briefausgabe bleibt jedoch wohl eine Aufgabe für kommende Generationen.
Von den insgesamt fünfzehn Beiträgen in den beiden Bänden sei auf zwei besonders hingewiesen. Unter dem Titel »Ich werde aber die Kraft haben, Sie nie mehr zu hassen …«: Phasen einer schwierigen Beziehung erörtert Wolfgang Beutin das Verhältnis zwischen Hiller und Karl Kraus. Dem Sprachkünstler Kraus ist als einer der zentralen Gestalten der Wiener Moderne eine weitaus breitere Wirkung beschieden gewesen als Hiller, wie die von Christian Wagenknecht verantwortete zwölfbändige Suhrkamp-Werkausgabe beweist; der Nachdruck seiner Fackel steht in vielen Regalen neben dem der Weltbühne. Zu einer ersten Annäherung zwischen den Autoren kam es etwa um 1911, als beide den literarischen Exponenten der expressionistischen Avantgarde nahestanden. Zudem waren sie engagierte Kritiker eines die individuellen Persönlichkeitsrechte unterminierenden Rechtssystems: Hiller mit seiner Dissertation Das Recht über sich selbst, Kraus mit seiner Schrift Sittlichkeit und Krimi-nalität, beide 1908 publiziert und der Befreiung der Sexualität aus dem Würgegriff einer sich moralisch gebärdenden Justiz verpflichtet. So wundert es kaum, daß Kraus Ende März 1911 einen kleinen Artikel Hillers zur Metaphysik in die Fackel aufnahm. Eine Auseinandersetzung zwischen Kraus und Alfred Kerr, den Hiller verteidigt hatte, ließ den brieflichen Verkehr freilich schon zwei Jahre später abbrechen. Erst Hillers Rede auf dem 1. Paneuropa-Kongreß in Wien im Oktober 1926 führte zu einer behutsamen Wiederannäherung, die sich in freundlich-wohlwollenden gegenseitigen Ermutigungen bis zum Tode von Karl Kraus im Juni 1936 manifestieren. Sechs Jahre später wird Hiller den Verstorbenen in einem Essay als »Denker, Kämpfer und Dichter in einem« würdigen, dessen Größe »in seinem ethischen Impetus« beruht habe.
Mit den Ziel-Jahrbüchern als Manifesten des Aktivismus beschäftigt sich wiederum Harald Lützenkirchen. Sorgfältig dokumentiert er die fünf Jahrbücher und sichtet ihren Inhalt. Unter den programmatischen Einzelforderungen befinden sich solche, deren Einlösung heute genauso weit entfernt scheint wie in den Jahren von 1916 bis 1924: Abschaffung des Krieges, Befreiung aller Liebe, Gewährung eines Existenzminimums an jedes Staatsmitglied, Beförderung des Ausleseprozesses durch gleichmäßigere Verteilung der äußeren Lebensgüter, unbedingter Schutz der Gedanken-, Rede- und Pressefreiheit, Herstellung der wahren Universitas litterarum, Kampf gegen das Kirchentum, wofern es fortfährt, sich dem Willen des Geistes zu widersetzen …
Armin T. Wegeners Genug vom Kriege! ist im dritten Band aus dem Jahre 1919 abgedruckt; neben lebende Autoren wie Franz Werfel und Max Brod, Otto Flake, Alfred Kubin und Salomo Friedlaender werden Texte von Rousseau oder Lassalle gestellt. Die berühmt gewordene Seite aus dem vierten Band ist als Faksimile abgedruckt: »Zum Ungehorsam gegen ein verbrecherisches Gesetz fordere ich euch auf, falls gesetzgebenden Metzgern beifallen sollte, abermals die Allgemeine Wehrpflicht über uns zu verhängen. Verächtlich, wer einem Gestellungsbefehl Folge leisten wird – es sei denn, daß er es für lobenswert hält, zu töten, und für begehrenswert, sich töten zu lassen.« Wie wahr in Zeiten, da mein Interesse am Hindukusch verteidigt und im Kosovo Versöhnung mit Waffengewalt gepflanzt werden soll!
Hiller hat hohe Ansprüche an die Redlichkeit und Selbständigkeit der Intellektuellen: »Was wir vermögen, ist zunächst wenig. Solange uns die politische Macht fehlt, die Verlängerer der kapitalistischen Unzucht dorthin zu befördern, wohin jeder Fromme sie wünscht, bleibt uns das bescheidene, darum nicht unnütze Mittel des gesellschaftlichen Boykotts gegen sie.« Lassen wir es uns nicht zweimal sagen! Und wünschen wir diesem verkannten und immer noch vergessenen Autor, daß er wiederentdeckt werde, daß seine Mahnungen auf fruchtbaren Boden fallen mögen – endlich!

Schriften der Kurt Hiller Gesellschaft. Im Auftrag der Kurt Hiller Gesellschaft e. V. hg. von Harald Lützenkirchen. Verlag Martin Klaußner Fürth. Band I, 216 Seiten; Band II, 310 Seiten; jeweils 24 Euro