von Wolfgang Sabath
Alle reden über die »Neuen Russen« – über »Neue Polen« hingegen wird nicht oder nur selten gesprochen. Sofern mich meine Zeitungslektüre nicht täuscht, scheint es nicht einmal diesen Begriff zu geben. Es ist sicher keine Überinterpretation, wenn ich vermute, daß da deutscherseits auch politische Präferenzen keine untergeordnete Rolle spielen. In dieser Beziehung sind die polnischen Nachwende-Eliten, insbesondere die Wirtschaftsbosse, in einer ebenso komfortablen Situation wie beispielsweise ihre ukrainischen Nachbarn: Jenen Teilen der deutschen Journalistenschaft, denen der Sinn immer noch nach »Kaltem Krieg« steht, sind ukrainische und polnische Nato- beziehungsweise Westorientierungen sowie der damit einhergehende Antirussismus dermaßen willkommen, daß sie zwar die Themen Macht, Privilegien und Korruption in diesen Ländern nicht vollständig ausklammern (können), sie aber viel nachsichtiger als gleichartige Zustände in Rußland behandeln. So »ungerecht« geht es in der Welt zu.
Nun liegt seit einem halben Jahr das Buch der Warschauer Soziologin Maria Jarosz vor, in dem die Professorin am Institut für Politische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften dieses Thema sachlich, materialreich, unaufgeregt und nachvollziehbar behandelt. Interessant daran ist, daß sie die Erscheinungen von Machtmißbrauch, den Umgang mit Privilegien und die Korruption in einen historischen Kontext stellt. Das erinnerte mich an einen alten Freund, Außenpolitik-Chef der Wochenzeitung Polityka zu einer Zeit, als dieses Blatt in der Volksrepublik Polen noch für einen demokratischen Sozialismus stand. Der hatte mich vor vielen Jahren, als ich – DDR-Jungredakteur – im Rahmen natürlich »verordneter Freundschaft« (Redakteuraustausch) meine ersten Schritte im Polnischen tat, darüber aufgeklärt, daß es bei ihnen geradezu ein Volkssport sei, den Staat zu betrügen; sei es, indem anstelle von Geld Metallblättchen in den Münzapparat gesteckt würden, seien es Zoll-, Steuer- oder sonstige Vergehen. Das habe – unter anderem – damit zu tun, daß »der Staat« jahrhundertelang immer etwas Fremdes war, russisch oder preußisch oder österreichisch. Das war eine meiner ersten Lektionen in polnischer Geschichte.
Wie wir natürlich alle wissen, sind uns Bestechung und Korruption hierzulande nicht fremd, Siemens, VW, Ackermann … Aber wer, um auf das Sondergebiet Neue Bundesländer zu kommen, den dahingegangenen Pajok-Sozialismus – dieses aus der UdSSR übernommene ausgetüftelte, allerdings staats- sowie gesetzestreu praktizierte Privilegiensystem (das 1945/46 mit einfachen, aber kalorienreichen Funktionärs-, Künstler- und Wissenschaftler-Freßpaketen begonnen und sich im entwickelten System des Sozialismus zu Sonderläden, Sonderzuwendungen, Regierungskrankenhäusern und Grabstätten entwickelt hatte) –, wer also dieses Pajok-System nicht wenigstens thematisiert, sollte über die Korruptions- und Privilegiensysteme kapitalistischer Gesellschaften besser schweigen.
In dieses Pajok-System waren allerdings nicht nur die eben erwähnten Berufsgruppen eingebunden, sondern von ihm profitierten auch Teile der Arbeiterschaft. In Polen waren es vor allem die Bergleute, die besonders bedacht wurden – vergleichbar mit den Wismut-Kumpeln in der DDR. In dem Kapitel Der Bergbau – die heißen Kartoffeln der Macht beschäftigt sich die Autorin ausführlich mit diesem Thema. So groß, wie die Bevorzugung der Kumpel zu volkspolnischen Zeiten war, so tief war ihr Fall nach der Schließung der Zechen bei der Wiederauferstehung des Kapitalismus, der in neoliberaler Sprachregelung in Polen verschleiernd Transformation genannt wird. Und so tief wie ihr Fall, so groß ist ihre Wut, ihre wütende Hilflosigkeit. Demonstrationen in Warschau haben es offenbart. Und die Selbstmordrate auch. Die stieg schon unter Gierek. Neben der Beschäftigungsgruppe »Land- und Forstarbeiter« (9,4 von 100 Sterbefällen) wies 1978 die Gruppe »Industrie- und Bergarbeiter« mit 9,2 die höchste Selbstmordrate auf. (Sie wurde von der Autorin auf der Grundlage von Daten des Statistischen Hauptamtes berechnet.)
Obwohl der polnische Bergbau daniederliegt, lebt immer noch eine beträchtliche Anzahl Menschen von ihm, und zwar gut. Nein, nicht die Kumpel. Maria Jarosz stellt fest, daß sich die Grenzen zwischen den Rollen der Gewerkschaften (manchmal bis zu sechs in einem Schacht!), Eigentümern (»Neue Polen«?), Beamten und Politikern verwischt hätten. Sie zitiert einen Kollegen: »Der Gewerkschaftsfunktionär hält den politischen Schutzschirm über seinen Vorsitzenden, und dieser schließt die Augen für dessen Geschäfte, da er bei dieser Gelegenheit ähnliche Dinger dreht. Und nach dem Ende der Amtszeit kann man mit einem Schreibtisch in einem Bergwerk rechnen, um auch weiterhin den weißen Kragen tragen zu können (…). All das ist so leicht zu bewerkstelligen, und so viel läßt sich verbergen, weil die Gewerkschaftsstrukturen mit den politischen verwoben sind: Die Solidarnos´c´ mit der AWS, die OPZZ mit der SLD. Nach dem Prinzip: Leben, Strippen ziehen, andere leben lassen.«
Wie Maria Jarosz überzeugend darlegt, funktioniert dieses System nicht nur im Bergbau und auch nicht nur in den Gewerkschaften. Es funktioniert vor allem darum, weil sich die scheinbar unvereinbaren politischen Hauptlager trotz aller Propaganda und konträrer Wahlaussagen in dieser Hinsicht gegenseitig respektieren. Es gilt als nicht anstößig, wenn die Wahlsieger ihren Sieg als Weg zur Krippe begreifen. Das ist in der Zentrale so, und in der Provinz ist es nicht anders. Da bleibt dem gemeinen Wähler nur, so es ihn überhaupt noch stört und er das eben für nicht »normal« hält, Nichtwähler zu werden. Die letzten Zahlen über Wahlbeteiligungen sprechen eine deutliche Sprache.
In Polen sind über siebzig Prozent der Wirtschafts- und Finanzeliten Personen, die »in der Wirtschaft des alten Systems leitende Funktionen innegehabt haben«. Dank Treuhand ist uns dieser Typ, der geschmeidig vom Genossen Generaldirektor zum Aufsichtratsvorsitzenden mutierte, erspart geblieben, jedenfalls weitgehend. An der Sache allerdings, die nun erst einmal wieder Kapitalismus heißt, änderte das zwar nichts, aber es ist polit-psychologisch eine angenehmere Situation. Außerdem ist es ja nicht ausgeschlossen, daß es einem Arbeitenden womöglich ziemlich egal geworden ist (wenn es ihn denn je interessierte … ), ob sein Betrieb einen »volkseigenen« Generaldirektor oder einen vom Aufsichtsrat bestellten Chef hat – er ist froh, Arbeit zu haben.
Im Unterschied zum deutschen »Beitrittsgebiet« fand in Polen kein Elitenaustausch statt. »Westpolen« standen ja nicht zur Verfügung (oder hätten erst aus dem Ausland herbeigeschafft werden müssen); die Eliten sind mehr oder weniger die alten.
Und die Arbeiter? »Die Arbeiter wurden blitzschnell von Siegern der Solidarnosc-Revolution von 1989 zu den Verlierern des neuen Systems. Diese unterlegene Klasse ist – im eigenen Bewußtsein – auch eine vereinsamte Klasse, die von ›ihren‹ Eliten im Stich gelassen wurde und keine Chancen hat, ihre Interessen zu verteidigen.«
Maria Jarosz: Macht, Privilegien, Korruption; Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2006, 290 Seiten, 24,80 Euro
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