von Andreas Reimann
Am 11. März jährte sich zum einhundertsten Mal der Geburtstag des Dichters Georg Maurer, und vielleicht wäre es angebracht, aus gegebenem Anlaß die Frage: »Wer, bitte?« geflissentlich zu überhören, oder aber lediglich auf das soeben in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung erschienene Auswahlbändchen Ich sitz im Weltall auf einer Bank im Rosental hinweisen. Aber man hat dieses »Wer, bitte?« leider schon fast zu lange überhört: Bereits in der DDR hätte man nämlich auf die Frage nach dem Poeten vornehmlich Auskünfte über den großartigen Lehrer zu hören bekommen; war er doch ab 1955 bis zu seinem Tode 1971 als Dozent und später Professor am Institut für Literatur »Johannes R. Becher« in Leipzig angestrengt damit beschäftigt, vorwiegend nicht mehr ganz jungen, dafür aber ideologisch ausgehärteten Literatur-Anwärtern eine Ahnung von großer Poesie zu vermitteln. Dafür haben ihm jene seiner Schüler, die später Gültiges zu Papier brachten, oft und vernehmlich öffentlich gedankt – und dabei den wichtigen Poeten G. M. fast kampflos den Germanisten überlassen.
Natürlich kann es auch sein, daß ihnen die Lyrik des Lehrers mit ihrem Pathos, ihrer der Klassik entlehnten Sprache und dem unbedingten Glauben an den Menschen nicht eben zusagte, hatte sie doch der unsägliche Phrasen-Schwulst der Parteiverlautbarungen und die allenthalben heraushängenden Losungen großen Worten gegenüber höchst skeptisch gemacht, und auch das Wort »Mensch« war durch den ominösen Begriff »sozialistisches Menschenbild« und das volkskammerliche Gequatsche von »unseren Menschen« an den Rand von Bedeutungsleere geraten. Vielleicht schien auch damals, als jüngere DDR-Autoren die Arbeit noch als eine Art heroischer Selbstaufgabe im Interesse der Allgemeinheit beschrieben, zum Beispiel Maurers Erkenntnis: »Arbeit ist die große Selbstbegegnung des Menschen. / Wüßte er sonst, wer er ist?«, nicht gerade zeitgemäß. Doch ihre Aktualität ist bestürzend, und es sind die einst gerühmten Gedichte der Jüngeren, die mittlerweile ein spöttisches Lächeln hervorrufen.
Freilich wußte auch die Literaturwissenschaft mit diesem Dichter, der ideologisch einfach nicht dingfest zu machen war, lange nichts anzufangen. Denn selbst als auch er sich nach Ablehnung seines »Dreistrophen-Kalender«-Manuskripts Anfang der fünfziger Jahre vorübergehend abstrampelte, etwas wie »sozialistische Aufbau-Lyrik« zu fabrizieren, blieb ihm die öffentliche Anerkennung weitgehend versagt. Während nämlich die einen in diesen Versen die »klare parteiliche Aussage« vermißten (Maurer beschwor auch in diesen Arbeiten seine Vorstellung von einer Art »zeitgenössischem Renaissance-Menschen«), fanden die ihm Näherstehenden den ausgewalzten Optimismus entweder weltfremd oder unfreiwillig komisch. Erst als Maurer selbst ziemlich mißverständlich geäußert hatte, er »sei vom Christen zum Marxisten gereift«, glaubten die Kulturfunktionäre aller Couleur, er habe ihnen nunmehr die Interpretationsgrundlage für sein Werk frei Haus geliefert.
Da half es ihm nicht mehr, gelegentlich zu äußern, daß »ein Dichter keiner Partei angehören dürfe, da sein Werk der gesamten Menschheit verpflichtet sei«: Von nun an war offiziell vom ihm als einem »marxistischen Dichter« – was immer das sein sollte – die Rede; und damit erlosch auch jegliches Interesse an seinem Werk im Westen Deutschlands. Und da die Literaturgeschichtsschreibung bezüglich der im Osten wohnhaften Autoren aus Bequemlichkeit bis auf den heutigen Tag in etlichen Fällen den Vorgaben der DDR-Einschätzungen folgt, machte und macht sich zum Beispiel auch keiner die Mühe, zu untersuchen, ob Maurer sich nicht vielleicht vom Christen eher zum Pantheisten (im Goethe’schen Sinne) als zum vulgärmaterialistischen Atheisten entwickelte … Denn obwohl Maurer nicht mehr wie in seinen frühen Hymnen Gott anrief, so besang er doch weiterhin die Schöpfung, und es steht zu vermuten, daß er aus der Kritik der politischen Ökonomie – so der Untertitel des Kapitals von Karl Marx – letztlich die Bestätigung der Bergpredigt herauslas.
1960 erschien dann endlich seine zwölf Jahre vorher entstandene Sammlung Der Dreistrophen-Kalender, und es war Maurer vergönnt, mit diesem Reigen lebensfröhlicher, unbeschwert gereimter Verse ein ungewöhnlich breites Publikum zu erreichen. Seine Freude darüber war freilich nicht ungetrübt; hatte er doch selbst diese liebenswürdigen kleinen Arbeiten stets als eine Art »Nebenprodukte« betrachtet, die zudem für den sich lebhaft weiterentwickelnden Autor bereits so etwas wie »der Schnee von gestern« waren. Wahrscheinlich befürchtete er sogar, es würde ihm nunmehr ähnlich wie Christian Morgenstern ergehen, der sich lange Zeit abmühte, hochgestochene Gedichte im Dunstkreis George’scher Lyrik zu schaffen und sich unfreiwillig erst mit seinen lediglich für den Stammtisch aus dem Handgelenk geschüttelten Galgenliedern seinen Platz in der Literatur eroberte … Da im übrigen »Lyrikkenner« und Poeten in Deutschland geneigt sind, verkäufliche Lyrikbände als literarisch anspruchslos zu mißachten – von unterschwelligem Neid bei immerhin sieben Auflagen des Buches bis 1988 will ich da gar nicht reden! –, wurde Maurer auch aus Kollegenkreisen wenig Ermutigendes zu diesem Buch zugetragen. Und daß sich die Sammlung auch heute noch in den verschämt versteckten Lyrik-Regälchen der Buchhandlungen neben den stets präsenten Ringelnatz-Ausgaben behaupten könnte – davon müßte nicht nur ich, sondern erst einmal ein Verleger überzeugt sein! Dann, als Maurer mit der Dichtung Das Unsere (…) nochmals einen Zyklus seiner groß angelegten Weltanschauungs-Gedichte geschaffen hatte, ersparte es ihm die die verständnislose Kritik keineswegs, seinen Versuch, mit Rilkes Duineser Elegien in einen philosophischen Disput zu treten, als eine Art »Widerlegung der Weltsicht Rilkes« zu preisen.
Aber statt sich selbst ein Bild vom Unterfangen des Autors zu machen, blieben auf Grund der offiziellen Huldigungen auch viele Literaturinteressierte in der DDR auf Distanz zu Maurers Werk. Denn so skeptisch man im Laufe der Jahre gegenüber den Verlautbarungen der alleinseligmachenden Partei geworden war: Wenn sie einen Mann als einen der Ihren ausgab, glaubte man ihr seltsamerweise aufs Wort! Und so bemerkt offensichtlich bis heute kaum jemand, daß ihm die Propaganda der Verblichenen langnachwirkend erfolgreich die Begegnung mit bedeutsamen dichterischen Hervorbringungen zum Beispiel des späten Johannes R. Becher, eines Louis Fürnberg oder eben Georg Maurers verstellt.
Und so harren die erstaunlichen poetischen Schöpfungen aus den letzten acht Lebensjahren des Dichters, mit denen er die Liebhaber seiner »Bildungs-Lyrik« ebenso wie die Literaturkritiker verschreckte, eigentlich immer noch der Entdeckung. Denn zu Recht konnte man der Maurerschen Lyrik bis zu dem Band Gespräche vorwerfen, daß sie vorwiegend reflektorisch sei, aber den sinnlichen Anlaß seiner Überlegungen nur andeutungsweise in den Text einbeziehe. Vielleicht konnte sich aber der lebendigkeitsfrohe Mensch G. M. überhaupt nicht vorstellen, daß der Leser bei der bloßen Erwähnung eines Dinges nicht sofort selbst eine Fülle von Assoziationen freisetzen würde: Schließlich hat ja auch jenes langatmige Gedicht Schillers, in dem für mein Empfinden die Freude nur behauptet, aber nicht emotional nachvollziehbar gestaltet wird, in Herrn B. eine bis ins Hymnische gesteigerte Begeisterung ausgelöst!
Nun aber, in den späten Gedichten, kehrt Maurer in der Darstellung der Vor-Gänge zur Unmittelbarkeit der Dreistrophen-Kalenders zurück, wobei ihm das Bild allerdings weiterhin als Grundlage philosophischer Schlußfolgerungen dient. Er scheut auch nicht mehr vor der ans Surreale grenzenden Metapher zurück, und seine Sprache gewinnt an holzschnittartiger Klarheit. Erweckte er vorher gelegentlich den Eindruck, er sei so naiv zu glauben, daß der Mensch a priori gut sei, formulierte er jetzt unter Einbeziehung der menschlichen Widersprüchlichkeiten seine nun tatsächlich unerschütterliche Überzeugung, dieses denkfähige Wesen könne sich durchaus auch vernünftig verhalten: Eine Aussage, die gewichtig gegen die hierzulande kursierende Behauptung steht, die Welt wäre auf ewiglich unvollkommen eingerichtet, weil des Menschen Natur nun einmal ausschließlich sein unbeherrschbarer Egoismus sei.
Und da ich einmal das Glück hatte, sein Schüler sein zu dürfen, doch noch eine private Bemerkung zu dem Lehrer Georg Maurer: Was ihn besonders machte von allen Dichtern, die mir bisher begegnet sind, war seine konsequente Bemühung, so zu schreiben, wie er lebte; so zu leben, wie er schrieb. Und nur die Wankelmütigen und Verlogenen unter seinen Schülern konnten behaupten: Ist doch ganz einfach! – Maurer bewies, daß es möglich ist.
Georg Maurer: Ich sitz im Weltall auf einer Bank im Rosental, Gedichte, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, 90 Seiten, 11 Euro
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