von Holger Politt, Warschau
Soviel wie in den letzten Dezembertagen des Jahres 2006 wurde in Polens Presse über Wojciech Jaruzelski lange nicht mehr geschrieben. Der 25. Jahrestag der Ausrufung des Kriegsrechts bot vielen einen willkommenen Anlaß, das eigene Fähnchen in den Wind der Geschichte zu drehen. Und einige versuchten auch, ihr politisches Süppchen mit der Erinnerung an den Winteranfang 1981 warmzuhalten.
Aus Präsidentenpalast und Hauptquartier der Regierungspartei PiS verlautete, dem General, der 1945 an Berlins Befreiung beteiligt gewesen war, müßten nun endlich die militärischen Ränge aberkannt werden. An der Tatsache, daß das Land in der Frage der historischen Bewertung der damaligen Vorgänge einen sehr geteilten Eindruck macht, ändert dieses Begehren nichts. Verstärkt hat sich jedoch die Tendenz, daß in der Altersgruppe der Unterdreißigjährigen das Verständnis für die damalige Gesamtsituation schwindet, Jaruzelski hingegen als Diktator schlichtweg abgelehnt wird. Der Hang zu ausgewogener Betrachtung steigt gleichermaßen mit zunehmender Lebenserfahrung.
In einer renommierten Wochenzeitung schrieb Waldemar Kuczynski: »Kein Geringerer als General Anders hat gesagt, daß die Entscheidung über den Ausbruch des Warschauer Aufstands verbrecherisch war. Die daran beteiligten Generäle müßten eigentlich verantwortlich gemacht werden für ihr Tun, aber sie sind heute Nationalhelden. Paradox ist es, wenn ein Mann, der das Land vor einer großen Tragödie bewahrte, der, als es Zeit für Systemveränderungen wurde, sie in die Wege leitete und sie, als sie weit über das hinausgingen, was eigentlich beabsichtigt war, nicht zu stoppen versuchte, und der danach beispielhaft die Funktion des ersten Präsidenten der Republik Polen ausfüllte, durch die Gerichte geschleift und ihm keine Ruhe gegönnt wird. Dieser Mann sollte im nationalen Gedächtnis positiver eingeschrieben sein als die Generäle des Aufstands.«
An dieser Meinung gibt es kaum etwas auszusetzen, und an Bedeutung gewinnt sie, wenn bedacht wird, daß der überzeugte Freidemokrat Waldemar Kuczynski, Minister in der Mazowiecki-Regierung (1989-1991) und wichtigster Wirtschaftsberater in der rechtsliberalen Buzek-Regierung (1997 bis 2001), einer der prominentesten Solidarnosc-Intellektuellen war, die ihr Engagement mit Internierung bezahlten und ihr Emigrantendasein bis 1989 in Frankreich fristeten. General Anders, der das harte Urteil über die Verantwortlichen des Warschauer Aufstands fällte, war im Zweiten Weltkrieg übrigens Polens wichtigster Heerführer auf westlicher Seite.
Ganz andere Töne zum Thema schlägt das bekannte linke Internetportals »lewica.pl« an, das vor allem von einer jüngeren Nutzergruppe frequentiert wird. Dort steht etwa zu lesen, daß die Verteidiger Jaruzelskis nicht als linksgerichtet gelten könnten, denn Militärstiefel und -drill zeichneten Militaristen aus, die seit jeher Feinde der Linken und der Arbeiterbewegung gewesen seien. Zudem seien diese Militaristen in der konkreten Situation zu Steigbügelhaltern des im Lande aufkommenden Kapitalismus geworden, habe doch Jaruzelski in den Jahren 1989/90 als Präsident Garantie gegeben für den friedlichen Systemwechsel hin zu einem wilden Kapitalismus, in dem die Interessen der arbeitenden Menschen schamlos beiseite geschoben wurden.
Ein anarchisierendes Rotes Kollektiv gar zog in der Nacht zum 13. Dezember vor das Jaruzelski-Haus, um frank und frei den Protest gegen »alle Diktaturen« kundzutun: »Chile 1973, Polen 1981«. Die etwas namhafteren linken Parteien hierzulande gingen auffällig auf Distanz und in Deckung: Das Kriegsrecht sei zwar ziemlich schlecht gewesen, wenn aber bedacht werde, was in der damaligen Situation so alles hätte passieren können, so komme der Betrachter nicht umhin, historisches Maß zu Rate zu ziehen.
Einen hat es dann aber doch arg erwischt. Präsident Lech Kaczynski, der innenpolitisch bisher allein als glühender Verfechter der Vierten Republik von sich Reden machte, ließ sich im Eifer des Gefechts die Einsicht abringen, daß das Jaruzelski-Polen bereits 1989 endgültig niedergerungen wurde. Seitdem hätten die Polen ihren eigenen Staat, der auch der seine sei. Zwar gäbe es die eine oder andere Sache auszusetzen, zwar wäre noch vieles zu richten, doch die Grundrichtung stimme. Einen solchen behutsamen Umgang mit der Dritten Republik sah das Publikum bei den Zwillingsbrüdern schon lange nicht mehr.
Jaruzelski darf sich trösten, hat er doch initiiert, wozu bisher keine oppositionelle politische Kraft im Stande war: den Widerruf der von den Kaczynskis bisher propagierten Vierten Republik.
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